Oliver Twist. Charles Dickens. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Charles Dickens
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783961183296
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zu alt für dieses Haus, der Vorstand hat beschlossen, ihn wieder zurückzunehmen. Und ich soll ihn abholen. Bringen Sie ihn mal her."

      "Ich werde ihn sofort holen", sagte Frau Mann und verließ das Zimmer. Oliver war inzwischen von dem Schmutz, der sein Gesicht und seine Hände bedeckte, soweit gereinigt worden, als es durch eine einmalige Wäsche geschehen konnte. An der Hand seiner wohlwollenden Beschützerin betrat er nun das Zimmer.

      "Mach einen Diener vor dem Herrn, Oliver", sagte Frau Mann.

      Oliver machte eine tiefe Verbeugung sowohl vor Herrn Bumble auf dem Stuhl, als auch vor dem Dreispitz auf dem Tische.

      "Willst du mit mir gehen, Oliver?" fragte Herr Bumble mit hoheitsvoller Stimme.

      Oliver wollte gerade sagen, dass er gern mit jedem fortgehen würde, als er bemerkte, dass ihm Frau Mann, die hinter den Stuhl des Gemeindedieners getreten war, mit wütender Miene die Faust zeigte. Er verstand diese Zeichensprache.

      "Wird sie auch mitgehen?" fragte der arme Junge.

      "Nein, aber sie wird dich hin und wieder besuchen", sagte Herr Bumble.

      Das war kein sonderlicher Trost für Oliver. Trotz seiner Jugend war er jedoch klug genug, sich so zu gehaben, als verließe er Frau Mann nur ungern. Es wurde ihm nicht schwer, Tränen ins Auge zu locken, da Hunger und kürzlich überstandene Misshandlungen recht geeignet sind, sie herbeizuführen. So weinte Oliver sehr natürlich. Frau Mann umarme ihn wohl tausendmal und gab ihm ein großes Butterbrot, damit er nicht allzu hungrig im Armenhaus ankäme. Unnötig zu sagen, dass ihm das Butterbrot lieber war als die tausend Umarmungen der Frau Mann. Mit einer kleinen braunen Tuchmütze auf dem Kopf verließ nun Oliver die armselige Stätte, wo nie ein freundliches Wort oder ein zärtlicher Blick das Dunkel seiner Kinderjahre erhellt hatte.

      Herr Bumble holte mit weiten Schritten aus, und der kleine Junge trabte neben ihm her, wobei er alle fünf Minuten fragte, ob sie nicht bald "da" seien.

      Oliver war noch keine Viertelstunde im Armenhause und kaum mit der Vertilgung eines zweiten Stückchen Brotes fertig, als Bumble ihm sagte, dass heute Abend eine Vorstandssitzung sei, und dass er unverzüglich vor dem Kollegium zu erscheinen habe.

      Die Begriffe von Sitzung und Kollegium waren Oliver nicht besonders klar. Er wusste deshalb nicht, ob er bei dieser Nachricht lachen oder weinen sollte. Bumble führte ihn in ein großes weißgetünchtes Zimmer, wo acht bis zehn wohlbeleibte Herren um einen Tisch saßen. Oben am Tische machte sich auf einem Lehnstuhl, der etwas höher als die übrigen Stühle war, ein besonders wohlgenährter Herr mit einem sehr runden, roten Gesichte breit.

      "Verbeuge dich vor den Vorstandsmitgliedern!" sagte Bumble, und Oliver tat es.

      "Wie heißt du, Junge?" fragte der Mann im hohen Lehnstuhl.

      Der Anblick so vieler Herren brachte Oliver so aus der Fassung, dass er zu zittern anfing. Er antwortete daher nur leise und schüchtern.

      "Junge!" sagte der Vorsitzende, "du weißt doch, dass du eine Waise bist?"

      "Was ist das?" fragte der arme Kerl.

      "Du weißt doch, dass du keinen Vater und keine Mutter hast und dass du von der Gemeinde erzogen wirst, nicht wahr?"

      "Jawohl, Herr", erwiderte Oliver, bitterlich weinend.

      "Warum heulst du?" fragte ein Herr mit einer weißen Weste. In der Tat, der Grund, weshalb er weinte, war sehr schwer zu finden.

      "Ich hoffe, du betest jeden Abend vorm Zubettgehen für die Leute, die dich aufziehen, wie es sich für einen Christen geziemt", fragte ein anderer Herr mit barscher Stimme.

      "Ja, Herr", stotterte der Junge.

      "Nun, wir haben dich hierherkommen lassen, damit du erzogen wirst und ein nützliches Gewerbe lernst", sagte der Vorsitzende.

      "Du wirst daher morgen früh um sechs Uhr anfangen, Werg zu zupfen", fügte der Herr mit der weißen Weste hinzu.

      Für die Verbindung dieser beiden Wohltaten machte Oliver auf einen Wink des Gemeindedieners eine tiefe Verbeugung und wurde dann schnell in einen großen Saal geführt, wo er sich auf einer harten Pritsche in den Schlaf weinte.

      Armer Oliver! Er dachte nicht daran, als er so in einer glücklichen Selbstvergessenheit schlummernd dalag, dass jene Männer am selben Tage einen Entschluss gefasst hatten, der den größten Einfluss auf sein künftiges Geschick haben sollte. Und doch war es der Fall, wie wir in folgendem sehen werden.

      Die Mitglieder des Gemeinderats waren sehr weise, einsichtsvolle, philosophische Männer. Als sie ihre Aufmerksamkeit dem Armenhaus zuwandten, fanden sie mit einem Male, was bisher noch kein gewöhnlicher Sterblicher entdeckt hatte, dass es den Armen darin zu gut gefiel. Es war in ihren Augen ein rechtes Vergnügungslokal für die besitzlosen Klassen, ein Wirtshaus, wo nichts bezahlt wurde jahrein, jahraus Frühstück, Mittagessen, Tee und Abendbrot auf öffentliche Kosten –, ein Elysium aus Backsteinen und Mörtel mit Spiel und Tanz, ohne jede Arbeit.

      "Oho", sagten die Gemeinderäte, "das muss anders werden, und zwar sofort." Sie setzten daher als Richtlinie fest, dass die armen Leute die Wahl haben sollten (denn es war nicht ihre Absicht, jemand zu zwingen), in dem Hause langsam oder außer dem Hause schnell Hungers zu sterben. Zu diesem Zwecke schlossen sie mit den Wasserwerken einen Vertrag über die Lieferung einer unbegrenzten Menge Wasser und trafen mit dem Getreidelieferanten eine Übereinkunft, von Zeit zu Zeit kleine Mengen Hafermehl herbeizuschaffen. So erhielten dann die Insassen des Armenhauses dreimal täglich einen dünnen Haferschleim, außerdem zweimal in der Woche eine Zwiebel und sonntags eine halbe Semmel.

      Schon in den ersten sechs Monaten nach Olivers Rückkehr war dieses System in vollem Gange. Der Raum, in dem die Jungen abgefüttert wurden, war eine große Halle aus Stein, an deren einem Ende ein kupferner Kessel stand. Aus diesem schöpfte der Speisemeister, unterstützt von einigen Frauen, zur Essenszeit den Haferschleim. Von dieser köstlichen Speise erhielt jeder Junge einen Napf voll, und nicht mehr – festliche Anlässe ausgenommen, an denen sie auch noch ein nicht allzu großes Stück Brot bekamen. Die Näpfe brauchten nicht abgewaschen zu werden, die Jungens bearbeiteten sie mit ihren Löffeln so lange, bis sie wieder spiegelblank waren.

      Kinder haben fast immer Hunger. Oliver und seine Kameraden hatten die Qualen des langsamen Hungertodes drei Monate lang ausgehalten. Da erklärte ein ziemlich großer Junge, dessen Vater eine kleine Kneipe hatte, und der daher reichliches Essen gewöhnt war, er fürchte seinen Schlafkameraden einmal nachts aufzuessen, wenn er nicht noch einen weiteren Napf Haferschleim täglich erhielte. Dabei rollten seine Augen wild. Die Jungen beratschlagen und losten dann, wer nach dem Abendessen zum Speisemeister gehen und um mehr bitten solle. Das Los fiel auf Oliver Twist.

      Der Abend kam heran, der Speisemeister stellte sich an den Kessel, und nachdem ein langes Tischgebet über das kurze Mahl gesprochen war, wurde der Haferbrei aus, geteilt. Dieser war schnell im Magen der Kinder verschwunden, als Oliver aufstand und mit Napf und Löffel vor den Speisemeister hintrat. Hunger und Elend ließen ihn alle Rücksichten vergessen, doch zitterte er, als er sagte:

      "Bitte, Herr, ich möchte noch etwas mehr."

      Der wohlgenährte, rotbäckige Koch wurde bei diesen Worten blass und musste sich am Kessel festhalten. Er blickte mit starrem Entsetzen auf den kleinen Rebellen und stieß schließlich mit schwacher Stimme aus: "Was?"

      "Bitte, Herr, ich möchte noch etwas mehr!"

      Da schlug ihn der Küchenmeister mit dem Löffel über den Kopf, packte Oliver bei den Händen und rief laut nach dem Gemeindediener.

      Der Verwaltungsausschuss hielt eben eine Sitzung ab, als Herr Bumble aufgeregt ins Zimmer stürzte. Er wandte sich an den Vorsitzenden:

      "Verzeihung, Herr Limbkins! Oliver Twist hat mehr haben wollen!"

      Alle waren starr.

      "Mehr?" fragte Herr Limbkins. "Nehmen Sie sich zusammen, Bumble, und antworten Sie mir klar und deutlich. Habe ich das so zu verstehen, dass er noch mehr verlangte, nachdem er bereits seinen vorschriftsmäßigen Anteil