Oliver Twist. Charles Dickens. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Charles Dickens
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783961183296
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fing vor Freude, ihn auf dem Weg zur Genesung zu sehen, laut zu weinen an.

      "Kümmere dich nicht darum, Liebling", sagte die alte Frau, "ich muss mich einmal recht ausweinen. Jetzt ist schon alles wieder vorüber, und mir ist leichter."

      "Sie sind auch zu gut zu mir", sagte Oliver.

      "Laß gut sein, liebes Kind", versetzte Frau Bedwin. "Nun ist es aber Zeit, dass du deine Fleischbrühe kriegst. Der Doktor sagte, Herr Brownlow werde dich vielleicht heute vormittag besuchen." Sie machte ihm eine kräftige Brühe zurecht und beobachtete dabei, dass Oliver sein Auge aufmerksam auf ein Porträt geheftet hatte, das seinem Stuhle gegenüber an der Wand hing.

      "Hast du Bilder gern, Liebling?" fragte sie.

      "Ich weiß nicht, ich habe noch zu wenig gesehen. Aber wie schön und sanft ist das Gesicht der Dame."

      "Ach", sagte Frau Bedwin, "die Maler machen die Damen immer hübscher als sie sind, sonst würden sie keine Kundschaft kriegen."

      "Stellt es jemand vor?"

      "Ja, es ist ein Porträt."

      "Von wem?" fragte Oliver lebhaft.

      "Ja, das kann ich dir nicht sagen. Es scheint dir zu gefallen, Kind?"

      "Es ist gar zu schön!"

      "Aber du fürchtest dich doch nicht davor?" sagte Frau Bedwin, als sie verwundert den ängstlichen Blick bemerkte, mit dem das Kind das Gemälde betrachtete.

      "O nein", erwiderte Oliver rasch, "aber die Augen blicken so traurig und sind immer auf mich gerichtet; wo ich auch sitzen mag. Mir ist immer so, als sei das Bild lebendig und wolle mit mir sprechen, könne aber nicht."

      "Um Himmelswillen!" rief Frau Bedwin aufspringend, "sprich nicht so, Kind. Du bist noch schwach und angegriffen von deiner Krankheit. Ich werde. deinen Sessel herumdrehen, dann kannst du es nicht mehr sehen!"

      Oliver sah es jedoch im Geiste so deutlich, ab ob der Sessel nicht gerückt worden wäre. Da er aber die alte Dame nicht kränken wollte, so lächelte er ihr freundlich zu, als sie ihn anblickte. Jetzt ließ sich ein leises Pochen an der Tür vernehmen.

      "Herein!" rief Frau Bedwin, und ins Zimmer trat Herr Brownlow.

      Oliver machte einen vergeblichen Versuch aufzustehen, um seinen Wohltäter zu begrüßen, dem die Tränen in die Augen traten.

      "Armer Junge, armer Junge", sagte er, "wie geht es dir heute?"

      "Sehr gut, Herr", entgegnete Oliver, "und ich danke Ihnen auch für die große Güte, mit der Sie sich meiner angenommen haben."

      "Du bist ein guter Junge", sagte Herr Brownlow, mit seinen Tränen kämpfend. "Was haben Sie ihm zu essen gegeben, Frau Bedwin? Wohl eine leichte Brühe?"

      "Er hat eben einen Teller herrlicher, kräftiger Fleischbrühe bekommen" sagte Frau Bedwin etwas empfindlich.

      "Hm", meinte Herr Brownlow mit leichtem Achselzucken, "ein paar Gläser Portwein hätten ihm vielleicht besser getan. Wie denkst du darüber, Tom White?"

      "Ich heiße Oliver, Herr", entgegnete der kleine Patient etwas verwundert.

      "Oliver?" fragte Herr Brownlow. "Oliver? – also Olliver White?"

      "Nein, Twist. Oliver Twist."

      "Seltsamer Name. Warum sagtest du aber dem Richter, du heißest White?"

      "Das habe ich ihm doch nicht gesagt", erwiderte Oliver erstaunt.

      Dies klang wie eine Lüge, so dass der alte Herr ihn strenge ansah. Es war aber unmöglich, die Aussage des Jungen zu bezweifeln, denn auf Olivers Stirn war die Wahrheit geschrieben.

      "Ein Mißverständnis also", bemerkte Herr Brownlow. Er behielt aber Oliver fest im Auge, da der frühere Gedanke einer Ahnlichkeit zwischen seinen Zügen und irgendeinem bekannten Gesicht sich ihm wieder aufdrängte.

      "Ich hoffe, Sie sind mir nicht böse?" sagte Oliver mit bittendem Augenaufschlag.

      "Nein, nein – aber – großer Gott, was ist das? Frau Bedwin, sehen Sie – da!" schrie der alte Herr.

      Er deutete hastig auf das Porträt und dann auf Oliver.

      Die Ähnlichkeit war sprechend.

      Oliver entging die Ursache von Herrn Brownlows plötzlichem Ausruf und hatte einen furchtbaren Schrecken gekriegt. Er war ohnmächtig geworden.

      Nachdem der Gannef und sein trefflicher Freund mit Befriedigung festgestellt hatten, dass die Menge in Oliver den vermeintlichen Dieb sah, und für sie nichts mehr zu befürchten war, machten sie sich auf den Heimweg.

      "Was wird Fagin sagen?" meinte der Gannef mit ernstem Gesicht.

      "Na, was wird er sagen?" erwiderte Karl Bates.

      "Schließlich den Kopf kann er uns nicht abreißen", meinte der Gannef. Das sollte ein Trost sein, aber keine Beruhigung. Karl Bates fühlte das auch und wurde nachdenklich.

      Einige Minuten nach diesem kurzen Gespräch weckte das Geräusch von Fußtritten auf der knarrenden Treppe den alten Juden aus seinen Betrachtungen. Er war gerade beim Essen.

      "Hm, was ist das?" murmelte er, "ich höre bloß zwei. Wo mag der dritte sein? Sie werden ihn doch nicht geklappt haben? Horch!"

      Langsam öffnete sich die Tür, und der Gannef und Karl Bates traten ins Zimmer.

      "Wo ist Oliver?" rief der Jude wütend, "wo ist der Junge?"

      Die jugendlichen Diebe waren über die Heftigkeit ihres Lehrmeisters so erschrocken, dass sie nicht sofort antworten konnten.

      "Was ist aus dem Jungen geworden?" schrie der Jude und packte den Gannef am Kragen, dabei schreckliche Verwünschungen ausstoßend. "Sprich, oder ich erwürge dich."

      "Die Polente5 hat ihn erwischt – das ist alles", versetzte der Gannef mürrisch. "Nun lassen Sie mich mal los", damit befreite er sich aus den Händen des Juden und ergriff die Bratgabel. Er wollte damit gerade dem Alten zuliebe gehen, als die Tür aufging und ein stämmiger Kerl mit einem weißen, zottigen Hund eintrat.

      "Was ist hier los, Fagin?" Der Sprecher war ein Mann von ungefähr fünfundvierzig Jahren mit einem plumpen, unrasierten Gesicht, in dem zwei düster blickende Augen saßen. Eins davon schillerte in allen Regenbogenfarben, die Folgen eines gutgezielten Faustschlages.

      "Warum bist du so aufgeregt, alter Gauner, und willst den Jungen verhauen?" Er setzte sich bedächtig. "Es wundert mich nur, dass sie dir nicht den Hals abschneiden. Ich würde es an ihrer Stelle tun!"

      "Stille, Herr Sikes, stille", versetzte der Jude zitternd, "sprecht nicht so laut."

      "Ich pfeife auf deine Anrede mit Herr"', sagte der Strolch, "du hast immer einen Schurkenstreich vor, wenn du mir so kommst. Du kennst meinen Namen, und ich werde ihm keine Schande machen, wenn meine Zeit gekommen ist."

      "Schön, nun denn – Bill Sikes", sagte der Jude kriechend, "Ihr scheint schlechter Laune zu sein."

      "Kann sein", erwiderte Sikes, bei dir scheint es jedoch auch der Fall zu sein. Aber nimm dich in acht, Halunke, wenn du schwatzst –"

      "Seid Ihr verrückt?!", rief der Jude, indem er Sikes am Ärmel erwischte und auf die Jungen zeigte.

      Sikes begnügte sich pantomimisch unter seinem linken Ohre einen Knoten zu machen, und ließ dann den Kopf auf die rechte Schulter sinken. Eine sinnbildliche Darstellung, die der Jude vollkommen zu verstehen schien. Dann verlangte er Schnaps und fügte scherzend hinzu:

      "Dass du mir aber kein Gift hineintust."

      Hätte er jedoch den teuflischen Seitenblick sehen können, mit dem der Jude sich in die Lippen biß, als er an den Wandschrank ging, so hätte er seine Mahnung