Kennzeichnend für die systemische Supervision ist, dass sie sich entsprechend den jeweiligen Aufträgen an die spezifischen Erfordernisse der Beratungs- und Begleitpraxis anpasst, was eine entsprechend große Vielfalt der Supervisionsausrichtungen zur Folge hat. Hinzu kommt die beachtliche Variationsbreite in den Settings. Supervidiert werden Einzelne, Gruppen, Teams (Leitung und MitarbeiterInnen) sowie Organisationen. Weiterhin wird inhaltlich und formal zwischen Fall- und Teamsupervision, Intervision, Selbstsupervision und Supervision von Organisationen unterschieden. Schließlich kann Supervision auch in Form von Life-Supervision oder Konsultation erfolgen. Der Eindruck täuscht nicht: Systemische Supervision ist ausgesprochen vielfältig. Die vorliegende Einführung macht es sich zur Aufgabe, diese Vielfalt im Einzelnen darzustellen und einen umfassenden Überblick zu geben.
1. Was ist Supervision?
Auch wenn sich systemische Supervision in erster Linie dem systemischen Denken und Handeln verpflichtet fühlt, ist sie zunächst einmal Supervision. Insofern stellt sich im Folgenden die Frage, was überhaupt unter Supervision verstanden wird, welches ihre Ziele und Funktionen, ihre Ausrichtungen und Formen sind. Außerdem ist von Interesse, was Supervision von anderen Beratungsformen abgrenzt.
1.1Definitionen und Ziele von Supervision
Eine erste Annäherung an den Begriff der Supervision bietet die folgende sehr allgemeine Definition: Supervision ist ein Weiterbildungs-, Beratungs- und Reflexionsverfahren für berufliche Zusammenhänge (Belardi 2005), in dem sich SupervisorInnen (professionelle BeraterInnen) und SupervisandInnen (professionelle Ratsuchende) begegnen.1 Stichwörter sind also Weiterbildung, Beratung, Reflexion, hervorgehoben wird der berufliche Zusammenhang. Nun gibt es allerdings nicht die eine Definition von Supervision, sondern verschiedene Verständnisse, was u. a. mit ihrer Entstehungsgeschichte zusammenhängt.
Der Begriff der Supervision tauchte zunächst in den USA im industriellen Kontext auf, wo er die Bedeutung von Inspektion im Produktionsbereich hatte. Der Arbeitsauftrag des/der SupervisorIn bestand darin, die Herstellung einwandfreier Produkte zu garantieren (Brandau 1991). Im Bereich helfender Berufe wurde der Begriff der Supervision dann in der Sozialarbeit übernommen. Der Supervisionstätigkeit wurde hierbei eine Doppelfunktion von Kontrolle und Hilfestellung zugeschrieben: Kontrolle im Sinne der Wohlfahrtsverbände, die Sozialarbeit bezahlten und für diese Finanzierung eine an ihre Richtlinien angepasste Arbeit verlangten, Hilfestellung im Sinne der SozialarbeiterInnen, die durch die verbindliche Integration von Supervision in die Sozialarbeiterausbildung eine Möglichkeit sahen, sich zusätzliches praktisches und theoretisches Wissen anzueignen. In der Regel übte ein institutionsinterner Vorgesetzter die Supervision aus. Dies hatte strukturell eine Kontextvermischung zur Folge, in diesem Falle von Bewertung der beruflichen Qualifikation und Hilfsangebot.
Im psychotherapeutischen Feld kam Supervision zu Beginn vor allem im Ausbildungskontext der Psychoanalyse in Form von Kontrollanalyse ins Spiel. Auch dies bewirkte eine Kontextvermischung, nun allerdings in Bezug auf Ausbildung und Therapie. Da die Institutionen, in denen die SupervisandInnen sowohl im sozialarbeiterischen als auch im psychoanalytischen Feld arbeiteten, zunächst außerhalb des Rampenlichts blieben und in ihren Strukturen nicht hinterfragt wurden, hatte die Supervisionstätigkeit in der Zeit der kritischen 70er Jahre zudem den Ruf, Anpassungsarbeit zu leisten.
Alle diese Bedeutungsvarianten von Supervision – Inspektion, Garantie, Kontrolle, Wissensvermittlung, Hilfestellung, Anpassungsleistung – und ihre verschiedenen Kombinationen sind nicht nur von historischer Bedeutung, sondern auch heute noch als potenzielle Ziele und Funktionen von Supervision gegeben. Gleichzeitig lässt sich allerdings vor allem in der theoretischen Debatte supervisorischer Ziele ein Wandel beobachten, indem z. B. übergeordnete Ziele, wie Verbesserung von Reflexions- und Kommunikationsfähigkeiten, in den Mittelpunkt gerückt werden. In Tabelle 1 werden solche übergeordneten allgemeinen Ziele von Supervision zusammengefasst.
Der Wandel in der Diskussion supervisorischer Ziele kann als parallel zur Professionalisierung der Disziplin angesehen werden, die sich im Zusammenhang mit der Vergrößerung des Supervisionsmarktes ergab und mit diesem in Wechselwirkung steht. Kurt Buchinger (1998) führt die wachsende Nachfrage nach Supervision auf veränderte Arbeits- und Produktionsprozesse zurück, u. a. auf die generelle Erweiterung von Handlungs- und Entscheidungsspielräumen der MitarbeiterInnen, vor allem in Institutionen mit deutlich abgeflachten hierarchischen Strukturen. In Wechselwirkung mit der Professionalisierung fand eine Konzentration auf Anforderungen statt, die Organisationen an die Supervision stellen und die systemisch orientierte Fragen und Konzepte in den Vordergrund schoben. Während historisch betrachtet ein sehr unterschiedliches Verständnis von Supervision in einigen wenigen Arbeitsfeldern und den damit verbundenen Berufsgruppen vorherrschte, haben sich für die Profession Supervision, so wie sie sich heute versteht, die Ziel- und Funktionserwartungen teilweise angenähert, obwohl sich die Anwendungsbereiche ausdifferenziert haben.
•Erweiterung oder Vertiefung persönlicher Erkenntnisse über eigene Möglichkeiten und Grenzen, über Einstellungen und Werthaltungen
•Veränderungen des eigenen Verhaltens
•Verbesserung des Wissens über soziale und institutionelle Rahmenbedingungen für das berufliche Handeln
•Erweiterung oder Vertiefung der sozialen Handlungskompetenz und der praktischen Fertigkeiten
•Verbesserung der Praxistätigkeit im jeweiligen Aufgabenfeld
•Multiplikation des erlernten beruflichen Know-how
Tab. 1: Ziele von Supervision
Insgesamt kann festgestellt werden, dass es grundsätzliche Unterschiede in den Zielvorstellungen von Supervision gibt. Manche Richtungen orientieren sich mehr an den eher funktionalen Erwartungen der AuftraggeberInnen, andere entspringen eher den Menschenbildern, Entwicklungs- und Veränderungsmodellen der verschiedenen psychotherapeutischen Schulen, welche die Supervisionsausrichtungen prägen, und wiederum andere entsprechen eher dem Selbstverständnis von Supervision als Profession.
In zunehmendem Maße werden allerdings vor allem in der Literatur funktionale Zielvorstellungen in den Mittelpunkt gerückt. Diese Entwicklung kann leicht den Eindruck erwecken, als habe über die verschiedenen Anwendungsfelder hinweg eine Vereinheitlichung von Supervisionszielen stattgefunden und als hätten sich die Unterschiede in der supervisorischen Praxis, von denen oben die Rede war, nivelliert. Dies ist jedoch nicht der Fall.
1.2Ausrichtungen von Supervision
Da sich die meisten Supervisionsausrichtungen aus psychotherapeutischen Ansätzen entwickelt haben, liegt es nahe, dass sich SupervisorInnen selbst oft primär über die Zugehörigkeit zu einer psychotherapeutischen Schule definieren. Je nach Schule wird in der Supervision auf andere Dinge geschaut, wird anderes wahrgenommen, wird methodisch unterschiedlich verfahren und erlangt womöglich auch eine andere Sinnvorstellung vom beobachteten Geschehen Bedeutung. SupervisorInnen haben in ihrem professionellen Selbstverständnis in der Regel Zielvorstellungen, die sich eng an ihrer psychotherapeutischen Herkunft und den damit verbundenen Menschenbildern, Entwicklungs- und Veränderungsmodellen orientieren. Dabei wird die alte Unterscheidung zwischen den beiden Traditionen des sozialarbeiterischen und des psychotherapeutischen Verständnisses von Supervision häufig überlagert durch schulenspezifische Unterschiede, die sich aus der Weiterentwicklung und Ausdifferenzierung verschiedener Psychotherapierichtungen ergeben. Gemeinsame Ansätze sind inzwischen für die Entwicklung einer supervisorischen Identität und Praxis oft wichtiger geworden als die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Berufsgruppe