Es war die Sache eines Augenblicks, eine Entscheidung von wenigen Sekunden.
Alle Männer sahen geradeaus und blickten auf den Oberrabbiner Dr. Castelfranco; sie warteten darauf, ihn das feierliche Schlußgebet, das Beracha, anstimmen zu hören. Nur einer von ihnen, der junge, erst vor kurzem ins Land gekommene Ukrainer, hatte sich umgedreht. Er sah nach oben, zum Matroneum hinauf, und zwinkerte mit seinen wilden, lachenden, herrlichen blauen Augen. Warum nicht ein Kind von ihm, mußte Egle Levi-Minzi plötzlich denken, und ihr war, als erwache sie jäh aus einer langen Betäubung. Natürlich war ihr klar, daß der junge Mann nicht zu ihr hinaufgegrüßt hatte, sondern zu seiner Mutter, der alten Bäuerin, die neben ihr saß. Aber warum konnte sie nicht einmal so tun, als habe sie sich getäuscht, und auf sein Lächeln, seinen grüßenden Blick, mit etwas Ähnlichem antworten? Gewiß, er war arm und ein Ausländer. Jung, um etliche Jahre jünger als sie, fast noch ein Junge. Aber arm. Ohne eigenes Haus. Heimatlos. Die Eltern könnten wohl bleiben, wo sie waren, in der Wohnung in der Via Vittoria, wo die Gemeinde sie untergebracht hatte. Der Junge dagegen … Es war der Mühe wert, einen Versuch zu machen. Der Mühe wert, ihn zu versuchen.
Sie hatte gelächelt. Hatte mit einer Handbewegung gegrüßt.
Nach einem Augenblick des Zögerns legte der junge Mann zwei Finger an die Hutkrempe und deutete eine Verbeugung an.
Doch, am Ende hatte es die Mühe gelohnt. Das Kind, das Egle Levi-Minzi geboren hatte, war ein Prachtkerl, lebhaft, intelligent, voller Übermut. Es erschien uns, den wenigen von uns, die die Lager und alles übrige überlebt und sich 1945 in der ›italienischen Synagoge‹ wieder eingefunden hatten – nun nicht mehr nach Frauen und Männern und Schulen getrennt –, als die wahre Personifizierung des Lebens mit seinem ewigen Wechsel von Ende und Neubeginn.
Er heißt Juri, Juri Rotstein. Er ist groß, mager, knochig, mit schräggestellten, blitzenden blauen Augen über vorstehenden Backenknochen, und er lebt noch heute bei seiner Mutter, allein mit ihr und für immer, in ihrem großen Haus in Ferrara.
2
Erinnern Sie sich an das Hotel Tripolis, dieses kleine Ferrareser Hotel letzter Kategorie (und von fragwürdigem Ruf), das sich vor dem Krieg in nächster Nähe vom Kastell der Este befand, genau gesagt, auf dem großen Platz gleich dahinter? Es ist dasselbe Hotel, von dem ich schon bei anderer Gelegenheit gesprochen habe. Also gut, dann stellen Sie es sich in einer Dezembernacht vor, vor vierzig Jahren vielleicht, mit anderen Worten in der schlimmsten Epoche des Faschismus, zu später Stunde, ein paar Minuten, bevor geschlossen wurde.
Unten, in der Halle, hatte man das Licht schon ausgemacht, als plötzlich im Hintergrund die Tür mit den Milchglasscheiben aufging und ein Windstoß die feuchte Luft in den leeren Saal jagte, bis zur Rezeption, wo der Nachtportier saß. Ein Mann trat langsam aus der Dunkelheit hervor und kam auf den Portier zu.
Er bewegte sich schwerfällig, weil er einen großen Koffer trug. Er hatte den Mantelkragen hochgeklappt und die Hutkrempe tief ins Gesicht gezogen, so daß man die Augen nicht sah.
Wer mochte das sein, überlegte der Portier. Ein Handelsreisender?
»Ich möchte ein Zimmer haben«, sagte der Mann ruhig.
»Damit fürchte ich Ihnen nicht dienen zu können«, sagte der Portier.
Er schlug das vor ihm liegende Register auf, in das er nur flüchtig hineinsah, um alsbald eine Grimasse zu schneiden.
»Sie werden verstehen«, sagte er, den Kopf wieder erhebend, »um diese Stunde haben wir das ganze Haus besetzt. Noch dazu so kurz vor Weihnachten …«
Er suchte den Blick des andern, konnte aber die unter der Krempe des schmierigen Schlapphuts verborgenen Augen nicht sehen. Er sah nur den unteren Teil des Gesichts, das stoppelige Kinn und die unrasierten Wangen.
»Bitte, schicken Sie mich nicht wieder weg«, sagte der Mann mit leiser Stimme. Er sprach mit spürbar südlichem Akzent. Kalabrien, vielleicht Sizilien, wer kannte sich da aus.
»Allmächtiger Gott!« seufzte er und beugte sich dabei unmerklich vor. »Ich bin so müde … Ist es denn möglich, daß Sie nichts frei haben? Es genügt mir, wenn ich nur ein paar Stunden bleiben kann. Ich fahre morgen früh mit dem Neun-Uhr-Zug.«
Der Portier schwankte. Er neigte von neuem seinen wohlfrisierten Kopf über das Register. »Ich könnte Ihnen nur ein Doppelzimmer geben«, sagte er schließlich. »Es ist das einzige noch freie Zimmer. Ich mache Sie jedoch darauf aufmerksam, daß Sie desungeachtet den vollen Preis zahlen müssen.«
›Desungeachtet‹ hatte er gesagt, nicht ohne ein gewisses Vergnügen, das er immer empfand, wenn sich die Gelegenheit bot, sich von dem Besitzer des Hotels, Signor Müller, vorteilhaft abzuheben durch sein feineres, gebildeteres Wesen – diesem Müller mit seinem ewigen Zahnstocher zwischen den Goldzähnen und seinen vulgären Manieren. Er war überzeugt, daß der Handelsreisende nun nicht länger auf einem Zimmer bestehen würde, vielmehr kehrtmachte und ging.
Aber da hatte er sich getäuscht.
Er sah, daß der Mann die Hand hob und seinen Hut nach hinten schob, so daß die kahle Stirn sichtbar wurde. Er lächelte.
»Das ist nicht mehr als recht«, sagte er.
»Danke.« Er spitzte die Lippen wie zu einem stummen Pfiff. Und mit einem Augenzwinkern sagte er:
»Der Personalausweis.«
Er hatte schon die rechte Hand in die linke Innentasche seines Mantels gesteckt und behutsam nach dem Ausweis getastet. Er schien mit sich zufrieden zu sein.
Der Portier drückte auf einen Knopf.
Alsbald erschien schlurfend der Hausdiener, ein alter Mann. Er wartete, bis der Portier dem Gast den Personalausweis zurückgab und ihm den Schlüssel zu dem Doppelzimmer im dritten Stock reichte. Darauf bückte er sich, packte den Koffer am Griff und ging, ein wenig schwankend, auf die Treppe zu, ohne darauf zu achten, ob ihm der Gast auch folgte.
»Gute Nacht, Signor Buda«, sagte der Portier. Der Mann hatte sich schon ein paar Schritte entfernt.
»Gute Nacht«, erwiderte er.
Er wandte sich nicht um, sondern beschränkte sich darauf, zwei Finger an die Hutkrempe zu legen.
»Wünschen Sie, geweckt zu werden?«
»Danke, das ist nicht nötig.«
»Gute Nacht, Signore.«
»Gute Nacht.«
Es war ein niedriges, doch geräumiges Zimmer. Die Tür in einer Ecke, daneben die Zentralheizung; Feuchtigkeitsflecken an den Wänden; ein paar strohfarbene Möbel, ein Kleiderschrank, eine Kommode. Neben dem Fenster – ohne Gardinen, mit geschlossenen Läden – das Waschbecken; darüber ein kleiner Spiegel. Über dem Spiegel eine viereckige Deckenleuchte aus Mattglas, fast bis zur Hälfte voller Staub und Ablagerungen, die ein rötliches Licht wie in dem Saal eines Krankenhauses verbreitete. Die beiden Betten standen nebeneinander und wirkten so wie ein großes Ehebett. Sobald er allein war, stieß Signor Buda einen leisen Pfiff aus – diesmal durchaus hörbar. Er sah sich um. Die Spiegeltüren des Kleiderschranks warfen ein schräges Bild des Zimmers zurück, mit ihm in der Mitte, den großen Vulkanfiberkoffer neben sich.
Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht.
»Das Leben ist ein Traum«, sagte er leise vor sich hin.
Er blieb noch einen Augenblick so stehen, regungslos, mitten im Zimmer. Dann schüttelte er die Erstarrung ab. Er legte Hut und Mantel ab und hängte sie an den Haken, der in die Tür geschlagen war. Darauf trat er ans Waschbecken, ließ das Wasser laufen und beugte sich darüber, um sich das Gesicht zu waschen.
Das Leben ist ein Traum, dachte er. Wann hatte er eigentlich einen solchen Satz einmal gehört oder gelesen? Und warum war er ihm gerade jetzt eingefallen?