Nach allen Seiten stoben die Kinder auseinander, während sich Pünktchen die Augen zuhielt und langsam bis zwanzig zählte.
Anja lief mit den anderen dem Waldrand zu. Sie versteckte sich zunächst hinter einem hohen Felsbrocken und hörte, wie Heidi, die sich nicht gut genug versteckt hatte, gerufen wurde. Da lief sie noch tiefer in den Wald hinein. Sie stieg ein Stück bergan und blieb dann abwartend stehen. Ringsum war es ganz still. Nur ein Bächlein murmelte leise.
Am Rand des kleinen Wasserlaufs blühten leuchtend rote Gebirgsnelken. Anja lief hin und pflückte einige davon. Sie wollte Tante Isi das Sträußlein schenken.
Immer weiter stieg Anja bergan, immer mehr Stängel drückte sie zwischen ihre Fingerchen. Dabei achtete sie gar nicht darauf, dass sie sich weit von den anderen Kindern entfernte. Doch plötzlich horchte sie auf. Es knackte im Unterholz, Zweige bewegten sich. Gleich darauf sah Anja einen Mann, der eilig durch den Wald lief.
Neugierig reckte sich die Kleine. Der Mann, den sie nur von hinten sah, trug etwas Graues unter dem Arm. Am Waldrand blieb er stehen und schaute sich vorsichtig nach allen Seiten um.
Instinktiv duckte sich Anja hinter einen Brombeerstrauch. Sie hatte keine Angst. Aus purer Neugierde lief sie zum Waldrand, als der Fremde auf die Koppel zuging. Schwungvoll sprang er über den hölzernen Zaun und näherte sich einer Gruppe Pferde. Dort ließ er das Graue, das er unter dem Arm trug, zur Erde fallen.
Nun sah Anja, dass es vier seltsam geformte Klötze waren, die der Mann in aller Eile über die Hufe eines Pferdes stülpte. Dann saß er auf, sprengte über das Gatter und ritt weiter oben in den Wald hinein. Sekunden später war er verschwunden. Das Ganze war wie ein Spuk. Doch Anja wusste, dass sie nicht geträumt hatte. Sie hatte gehört, dass in Sophienlust von einem Pferdediebstahl gesprochen worden war. Und jemand, der so rasch im Wald verschwand, der konnte doch nur ein Dieb sein.
Anjas kleines Herz begann angstvoll zu pochen. Sie hatte ihn gesehen, den Dieb, und sie wusste jetzt, wie er die Pferde stahl. So rasch es ihre kurzen Beinchen zuließen, rannte Anja bergab. Ihre blonden Haare flogen, ihr Atem ging schnell. Immer rascher lief sie. Schon tauchte die Fohlenweide auf. Bei dem Stock standen Pünktchen und die anderen Kinder. Offensichtlich hatte Pünktchen bereits alle gefunden.
Doch das interessierte Anja im Moment überhaupt nicht. Sie wollte schreien, wollte den anderen zurufen, was sie entdeckt hatte. Sie öffnete den Mund, bewegte die Lippen. Aber kein Laut kam aus ihrem Mund. Viel hätte sie darum gegeben, wenn sie jetzt hätte reden können.
»Anja ist Sieger«, rief Pünktchen. »Sie wurde zuletzt entdeckt! Anja, jetzt darfst du suchen.«
»Bravo, Anja!«, johlten die kleineren Kameraden.
Das blonde Mädchen rannte keuchend auf die Wiese. Direkt vor Nick blieb es stehen. Flehend sah es den Jungen an und versuchte zu sprechen. Verzweifelt bemühte es sich, seinen Gedanken Ausdruck zu geben.
»Sie will dir etwas sagen«, meinte Irmela und bohrte die Hände in die Taschen ihrer Jeans. Zusehen zu müssen, wie Anja sich quälte, ohne ihr helfen zu können, war grausam.
»Was, Anja, was?« Nick beugte sich zu dem Kind hinab und strich ihm liebevoll das feuchte Haar aus der Stirn.
Anja deutete den Hang hinauf, zog Nick an der Hose. Es war klar, dass sie ihn bat, mitzukommen.
Doch Nick zögerte. »Du möchtest, dass wir zu der Pferdekoppel gehen?«
Anja nickte heftig. Sie war hochrot im Gesichtchen und glühte vor Erregung.
»Eigentlich wollte ich mich dort in nächster Zeit nicht mehr sehen lassen«, murmelte Nick.
»Wir müssen mitgehen. Anja will uns bestimmt etwas zeigen.« Pünktchen fasste die Kleine an der Hand und drückte beruhigend ihre Fingerchen.
»Ich kann mir nicht vorstellen, was es dort oben Aufregendes geben sollte.«
»Vielleicht die Pferdediebe«, meinte Vicky, die von dem nächtlichen Ausflug der Kinder nichts erfahren hatte.
»Aber die kommen doch nicht am helllichten Tag!«
Die Kinder gerieten so heftig ins Diskutieren, dass niemand auf Anja achtete, die diese Vermutung durch heftiges Kopfnicken bestätigte.
Schließlich war man oben am Gatter angelangt. Die Koppel lag still und friedlich da. Die Pferde grasten ruhig wie immer.
»Ist doch alles in Ordnung«, sagte Nick.
Anja machte einige verzweifelte Gesten. Doch das, was sie damit ausdrücken wollte, verstand niemand.
»Vielleicht hat sie ein Reh gesehen«, überlegte Angelika laut.
»Na, Kinder, habt ihr die Pferde besucht?« Einer der Knechte Alexander von Schoeneckers tippte grüßend an die Mütze. »Ich habe gerade eine Tasse Kaffee getrunken. Wie jeden Tag um diese Zeit. Aber nun bin ich wieder hier. Dein Vati, Nick, hat mich nämlich gebeten, etwas aufzupassen. Und da ich ohnehin den Zaun zu reparieren habe, geht’s in einem!« Der Mann in dem karierten Hemd schwang den Hammer.
Die Kinder wandten sich zum Gehen. Anja aber machte sich steif und ließ sich nicht mitziehen. Sie deutete auf den Waldrand, dann wieder auf die Koppel und versuchte den Vorgang in Zeichensprache zu schildern. Doch sie hatte darin zu wenig Übung. Niemand verstand sie.
»Ein Reh. Ich hab’s ja gleich gesagt«, sagte Angelika.
*
»Ist Tante Isi heute nicht hier?«, fragten die Kinder enttäuscht beim Abendbrot.
»Nein. Sie musste nach Gut Schoeneich hinüber. Dort hat man wieder ein Pferd gestohlen«, berichtete Frau Rennert, während sie den Kleinen ihre Brote in mundgerechte Happen schnitt.
»Ein Pferd?« Nick blieb fast der Brocken im Hals stecken.
»Man hat es erst bemerkt, als man die Pferde in den Stall brachte.«
»Welches Pferd?« Nick sprang hoch, setzte sich aber sofort wieder.
»Ich glaube, Patricius heißt es. Du weißt ja, ich kenne mich damit nicht so aus.« Frau Rennert machte ein betrübtes Gesicht.
»Das darf doch nicht wahr sein«, stöhnte Nick und schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn.
»Patricius hat schon zwei Rennen gewonnen«, berichtete Henrik weinerlich. Ihm war der Schreck ordentlich auf den Magen geschlagen. Entschlossen schob er den Teller weg.
»Ui, das ist doch der tolle Hengst mit der schwarzen Mähne!« Fabian pfiff nach Jungenart durch die Zähne. Das trug ihm einen strafenden Blick der Heimleiterin ein.
»Aber die Pferde sind doch die ganze Zeit über bewacht worden«, jammerte Pünktchen. »Wir haben den Mann, der den Zaun repariert hat, selbst gesehen.«
»Wie kann denn jemand am helllichten Tag ein Pferd in ein Auto verladen, ohne dass jemand etwas bemerkt?« Irmela ließ Messer und Gabel sinken.
»Wenn ein Auto zur Koppel gefahren wäre, hätten wir es doch sehen müssen.« Pünktchen bekam vor Aufregung ganz heiße Backen.
Alle beteiligten sich an der Diskussion, nur die kleine Anja konnte nicht mitreden. Dabei hätte sie manches zu erzählen gehabt. Doch alle hatten das seltsame Betragen des kleinen Mädchens längst vergessen.
Anja versuchte sich durch Gesten Gehör zu verschaffen. Doch da sie nicht beachtet wurde, gab sie es bald wieder auf. Stumm saß sie vor ihrem Teller. Das Stückchen Wurstbrot, das Frau Rennert ihr besorgt ins Mündchen geschoben hatte, wälzte sie appetitlos hin und her.
Warum konnte sie nicht mehr erzählen, was sie bedrückte? Warum kam kein einziger Ton aus ihrem Mund, obwohl sie sich so viel Mühe gab? Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, was es bedeutete, stumm zu sein. Zum ersten Mal fühlte sie sich aus der Gemeinschaft ausgeschlossen, fühlte sie sich einsam und allein. Sie sehnte sich nach ihren Eltern, nach dem kleinen Bruder. Doch diese waren unerreichbar. Schwester Regine hatte gesagt, dass sie im Himmel seien. Aber lagen