»Das sagst du jetzt, weil du einen anderen gefunden hast, der dir mehr bieten kann als ich.«
»Mehr? Nein. Aber er bietet mir das Leben, von dem ich seit meiner Kindheit heimlich geträumt habe. Übrigens ist das nicht ausschlaggebend. Die Liebe zu Erich hat mir in mancher Hinsicht die Augen geöffnet.«
»So?«, fragte er höhnisch.
»Ja. Wenn du mir so viel bedeuten würdest wie …« Sie unterbrach sich. »Jedenfalls wäre ich dann mit Freuden bereit gewesen, mit dir zum Zirkus zu gehen. So aber …«
Mit einer müden Handbewegung brachte er sie zum Schweigen. »Ich verstehe«, sagte er resignierend. »Ich hätte es schon früher merken sollen. Geahnt habe ich es allerdings – damals, als du Evi ins Haus brachtest.«
»Es tut mir so leid.«
»Mir auch. Aber vielleicht ist es besser so. Ich wollte es bisher nicht wahrhaben, aber unsere Ansichten von Glück sind zu verschieden. Du wirst im Forsthaus leben?«
»Ja.«
»Nun, ich hoffe … Nein, ich bin sicher, dass du dort glücklich werden wirst. Ich wünsche es dir – trotz allem!«
»Helmut, ich …«
Er winkte ab. »Es gibt nichts mehr zu sagen«, stellte er müde fest. »Ich werde mich von dem Schlag erholen. Du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen. Ich werde darüber hinwegkommen.«
Nachdem Betti das Freigehege verlassen hatte, setzte Helmut Koster sich auf einen Baumstumpf und vergrub den Kopf in seine Hände. Solange Betti vor ihm gestanden hatte, hatte er sich beherrscht. Doch jetzt überkam ihn abgrundtiefe Verzweiflung. Er hatte Betti endgültig verloren.
Helmut grübelte darüber nach, was er hätte anders machen sollen, doch zuletzt endete alles bei dem einen Punkt: Betti hatte ihn nicht geliebt. Er war blind gewesen. Aber nein, nicht blind. Er hatte es gefühlt, aber er hatte der Wahrheit nicht ins Gesicht sehen wollen.
Helmut erhob sich taumelnd. Es half alles nichts, er musste sich damit abfinden, dass er Betti verloren hatte. Flüchtig überdachte er die Pläne, die er geschmiedet hatte. Betti hatte wenig, besser gesagt, gar nicht daran teilgenommen. Deshalb kam ihm sein Vorsatz, zum Zirkus zu gehen, mit einem Mal nicht mehr so erstrebenswert vor. Trotzdem klammerte er sich daran. Er würde fremde Länder sehen, neue Eindrücke gewinnen – und darüber Betti vergessen.
*
Andrea von Lehn blickte Betti voll Wissbegierde entgegen. »Ist alles in Ordnung?«, fragte sie besorgt.
»Ja.« Betti atmete auf. »Helmut hat mich freigegeben. Jetzt kann ich es auch Ihnen sagen, oder hat Evi es schon ausgeplaudert?«
»Nein.« Andrea lächelte. »Evi war diskret und verschwiegen. Aber es ist ihr sicherlich schwergefallen. Nun erzählen Sie endlich! Ich kann meine Neugierde kaum mehr bezähmen.«
»Evis Vater hat mich gebeten, ihn zu heiraten, und ich habe zugestimmt.«
»Oh! Ich gratuliere Ihnen!« Voll Freude umarmte Andrea das Mädchen. »Es tut mir natürlich leid, dass Sie von uns weggehen«, sagte sie dann. »Aber die Hauptsache ist, dass Sie glücklich sind.«
*
Nach dem Abendessen, als Andrea mit ihrem Mann allein war, teilte sie ihm mit, dass Betti die Frau von Erich Gleisner und Evis Mutter werden würde.
»Meine Hoffnung hat sich also doch erfüllt«, schloss sie ihren Bericht.
»Deine Hoffnung?«
»Ja. Es war doch die einzig mögliche Lösung des Konflikts, in dem Betti sich befand. Dass Betti Evis Vater heiratet ist für alle Beteiligten das Beste.«
»Auch für Herrn Koster?«
»Betti hat niemals zu ihm gepasst.«
»Und woher willst du wissen, dass Erich Gleisner besser zu ihr passt? Du kennst ihn ja gar nicht.«
»Betti wirkt so glücklich und zufrieden wie noch nie. Diesmal ist es der Richtige.«
*
Als Erich Gleisner nach vierzehn Tagen kam, um Betti und Evi abzuholen, hatte das Ehepaar von Lehn Gelegenheit, den Förster kennenzulernen und sich davon zu überzeugen, dass er tatsächlich der richtige Mann für Betti war. Es war ihm nun nichts mehr von der Verbitterung anzumerken, die ihn während seiner Krankheit so gequält hatte. Er küsste Betti, die seine Umarmung freudig erwiderte.
»Du bist jetzt frei und kannst mich heiraten?«, fragte er.
»Ja.«
»Dann wollen wir unser Vorhaben möglichst rasch in die Tat umsetzen. Du bist doch auch noch immer damit einverstanden, mit mir im Forsthaus zu wohnen?«
»Ja, gewiss.«
Evi kam herbeigelaufen. »Vati! Fahren wir jetzt nach Hause?«, erkundigte er sich.
»Ja. Du musst Abschied nehmen.«
»Auch von Peterle?«
»Natürlich. Peterle müssen wir hierlassen.«
Evis Gesichtchen verdüsterte sich.
»Sei nicht traurig«, tröstete Erich seine Tochter. »Wer weiß – in einem Jahr hast du vielleicht ein kleines Brüderchen.«
»Bestimmt?« Evi sah Betti an.
»Dein Vater hat gesagt ›vielleicht‹. Du musst Geduld haben«, erwiderte Betti ein wenig verlegen. »Aber eines kann ich dir versprechen: Wir werden Johannisbeersträucher anpflanzen. Schon im nächsten Sommer kannst du sie abernten.«
*
Andrea von Lehn war an diesem Abend etwas deprimiert. »Nun sind sie also fort«, sagte sie. »Das Haus kommt mir ohne Betti und Evi so still vor.«
Im selben Augenblick ertönte aus dem Kinderzimmer ein Plumps und gleich darauf ein markerschütterndes Geschrei.
»Still hast du gesagt?«, fragte Hans-Joachim mit hochgezogenen Brauen.
Andrea hörte diese Bemerkung nicht mehr. Sie war bereits hinübergelaufen und hatte Peterle vom Fußboden aufgehoben.
»Er ist aus dem Bett gefallen«, teilte sie ihrem Mann mit, der ihr gefolgt war.
»Er ist heute so unruhig. Wahrscheinlich fehlt ihm Betti.«
Andrea legte ihren Sohn wieder ins Bett und deckte ihn zu. »Betti wird uns allen sehr fehlen«, fuhr sie dann fort.
»Ja. Wir werden uns nach einem anderen Mädchen umsehen müssen«, meinte Hans-Joachim.
»Das wird nicht einfach sein.«
»Jedenfalls werden wir leichter einen Ersatz für Betti finden als Helmut Koster.«
»Er tut mir leid«, sagte Andrea. »Ich bin so froh, dass Betti glücklich geworden ist, aber Herrn Koster bedaure ich trotzdem.«
»Auch er wird eines Tages sein Glück finden«, erwiderte Hans-Joachim.
Frau Rennert, die mütterliche Heimleiterin von Sophienlust, setzte ihre Brille ab. Tante Ma, wie sie von allen Kindern genannt wurde, war an diesem Abend außergewöhnlich müde.
Nach einem heißen, schwülen Tag war bei Einbruch der Dunkelheit ein schweres Gewitter niedergegangen. Es hatte gedonnert, geblitzt und schließlich wolkenbruchartig geregnet. Im Park von Sophienlust hatten sich die Wassermassen zu einem riesigen See gestaut, sodass der alte Justus im strömenden Regen hinausgelaufen war, um die zugeschwemmten Abflüsse zu reinigen.
Für die Kinder von Sophienlust war dies natürlich ein so aufregendes Erlebnis gewesen, dass sie nicht ins Bett gewollt hatten. Sie hatten