Draußen vor der Tür. Wolfgang Borchert. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wolfgang Borchert
Издательство: Bookwire
Серия: Reclam XL – Text und Kontext
Жанр произведения: Учебная литература
Год издания: 0
isbn: 9783159617558
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einer mit Rock, mit einem Busen und langen Locken. Und dann ist das Leben plötzlich wieder ganz herrlich und süß. Dann will kein Mensch mehr sterben. Dann wollen sie nie tot sein. Wegen so ein paar Locken, wegen so einer weißen Haut und ein bisschen Frauengeruch. Dann stehen sie wieder vom Sterbebett auf und sind gesund wie zehntausend Hirsche im Februar. Dann werden selbst [20]die halben Wasserleichen noch wieder lebendig, die es eigentlich doch überhaupt nicht mehr aushalten konnten auf dieser verdammten öden elenden Erdkugel. Die Wasserleichen werden wieder mobil – alles wegen so ein Paar Augen, wegen so einem bisschen weichen warmen Mitleid und so kleinen Händen und wegen einem schlanken Hals. Sogar die Wasserleichen, diese zweibeinigen, diese ganz sonderbaren Leute hier auf der Welt – –

      II. SZENE

      (Ein Zimmer. Abends. Eine Tür kreischt und schlägt zu. Beckmann. Das Mädchen).

      MÄDCHEN:

      So, nun will ich mir erstmal den geangelten Fisch unter der Lampe ansehen. Nanu – (sie lacht) aber sagen Sie um Himmels willen, was soll denn dies hier sein!

      BECKMANN:

      Das? Das ist meine Brille. Ja. Sie lachen. Das ist meine Brille. Leider.

      MÄDCHEN:

      Das nennen Sie Brille? Ich glaube, Sie sind mit Absicht komisch.

      BECKMANN:

      Ja, meine Brille. Sie haben recht; vielleicht sieht sie ein bisschen komisch aus. Mit diesen grauen Blechrändern um das Glas. Und dann diese grauen Bänder, die man um die Ohren machen muss. Und dieses graue Band quer über die Nase! Man kriegt so ein graues Uniformgesicht davon. So ein blechernes Robotergesicht. So ein Gasmaskengesicht. Aber es ist ja auch eine Gasmaskenbrille.

      [21]MÄDCHEN:

      Gasmaskenbrille?

      BECKMANN:

      Gasmaskenbrille. Die gab es für die Soldaten, die eine Brille trugen. Damit sie auch unter der Gasmaske was sehen konnten.

      MÄDCHEN:

      Aber warum laufen Sie denn jetzt noch damit herum? Haben Sie denn keine richtige?

      BECKMANN:

      Nein. Gehabt, ja. Aber die ist mir kaputt geschossen. Nein, schön ist sie nicht. Aber ich bin froh, dass ich wenigstens diese habe. Sie ist außerordentlich hässlich, das weiß ich. Und das macht mich manchmal auch unsicher, wenn die Leute mich auslachen. Aber letzten Endes ist das ja egal. Ich kann sie nicht entbehren. Ohne Brille bin ich rettungslos verloren. Wirklich, vollkommen hilflos.

      MÄDCHEN

      (fröhlich, nicht hart): Ja? Ohne sind Sie vollkommen hilflos? Dann geben Sie das abscheuliche Gebilde mal schnell her. Da – was sagen Sie nun! Nein, die bekommen Sie erst wieder, wenn Sie gehen. Außerdem ist es beruhigender für mich, wenn ich weiß, dass Sie so vollkommen hilflos sind. Viel beruhigender. Ohne Brille sehen Sie auch gleich ganz anders aus. Ich glaube, Sie machen nur so einen trostlosen Eindruck, weil Sie immer durch diese grauenhafte Gasmaskenbrille sehen müssen.

      BECKMANN:

      Jetzt sehe ich alles nur noch ganz verschwommen. Geben Sie sie wieder raus. Ich sehe ja nichts mehr. Sie selbst sind mit einmal ganz weit weg. Ganz undeutlich.

      MÄDCHEN:

      Wunderbar. Das ist mir gerade recht. Und Ihnen bekommt das auch besser. Mit der Brille sehen Sie ja aus wie ein Gespenst.

      [22]BECKMANN:

      Vielleicht bin ich auch ein Gespenst. Eins von gestern, das heute keiner mehr sehen will. Ein Gespenst aus dem Krieg, für den Frieden provisorisch repariert.

      MÄDCHEN

      (sehr herzlich und warm): Und was für ein griesgrämiges graues Gespenst! Ich glaube, Sie tragen innerlich auch so eine Gasmaskenbrille, Sie behelfsmäßiger Fisch. Lassen Sie mir die Brille. Es ist ganz gut, wenn Sie mal einen Abend alles ein bisschen verschwommen sehen. Passen Ihnen denn wenigstens die Hosen? Na, es geht gerade. Da, nehmen Sie mal die Jacke.

      BECKMANN:

      Oha! Erst ziehn Sie mich aus dem Wasser und nun lassen Sie mich gleich wieder ersaufen. Das ist ja eine Jacke für einen Athleten. Welchem Riesen haben Sie die denn gestohlen?

      MÄDCHEN:

      Der Riese ist mein Mann. War mein Mann.

      BECKMANN:

      Ihr Mann?

      MÄDCHEN:

      Ja. Dachten Sie, ich handle mit Männerkleidung?

      BECKMANN:

      Wo ist er? Ihr Mann?

      MÄDCHEN

      (bitter, leise): Verhungert, erfroren, liegen geblieben – was weiß ich. Seit Stalingrad ist er vermisst. Das war vor drei Jahren.

      BECKMANN

      (starr): In Stalingrad? In Stalingrad, ja. Ja, in Stalingrad, da ist mancher liegengeblieben. Aber einige kommen auch wieder. Und die ziehen dann das Zeug an von denen, die nicht wiederkommen. Der Mann, der Ihr Mann war, der der Riese war, dem dieses Zeug gehört, der ist liegengeblieben. Und ich, ich komme nun her und ziehe sein Zeug an. Das ist schön, nicht wahr. Ist das nicht schön? Und seine Jacke ist so riesig, dass ich fast darin ersaufe. (Hastig.) Ich muss sie wieder ausziehen. [23]Doch. Ich muss wieder mein nasses Zeug anziehen. Ich komme um in dieser Jacke. Sie erwürgt mich, diese Jacke. Ich bin ja ein Witz in dieser Jacke. Ein grauenhafter gemeiner Witz, den der Krieg gemacht hat. Ich will die Jacke nicht mehr anhaben.

      MÄDCHEN

      (warm, verzweifelt): Sei still, du Fisch. Behalte sie an, bitte. Du gefällst mir so, Fisch. Trotz deiner komischen Frisur. Die hast du wohl auch aus Russland mitgebracht, ja? Mit der Brille und dem Bein noch diese kurzen kleinen Borsten. Siehst du, das hab ich mir gedacht. Du musst nicht denken, dass ich über dich lache, Fisch. Nein Fisch, das tu ich nicht. Du siehst so wunderbar traurig aus, du armes graues Gespenst: in der weiten Jacke, mit dem Haar und dem steifen Bein. Lass man, Fisch, lass man. Ich finde das nicht zum Lachen. Nein, Fisch, du siehst wunderbar traurig aus. Ich könnte heulen, wenn du mich ansiehst mit deinen trostlosen Augen. Du sagst gar nichts. Sag was, Fisch, bitte. Sag irgendwas. Es braucht keinen Sinn zu haben, aber sag was. Sag was, Fisch, es ist doch so entsetzlich still in der Welt. Sag was, dann ist man nicht so allein. Bitte, mach deinen Mund auf, Fischmensch. Bleib doch da nicht den ganzen Abend stehen. Komm. Setz dich. Hier, neben mich. Nicht so weit ab, Fisch. Du kannst ruhig näher rankommen, du siehst mich ja doch nur verschwommen. Komm doch, mach meinetwegen die Augen zu. Komm und sag was, damit etwas da ist. Fühlst du nicht, wie grauenhaft still es ist?

      BECKMANN

      (verwirrt): Ich sehe dich gerne an. Dich, ja. Aber ich habe bei jedem Schritt Angst, dass es rückwärts geht. Du, das habe ich.

      [24]MÄDCHEN:

      Ach du. Vorwärts, rückwärts. Oben, unten. Morgen liegen wir vielleicht schon weiß und dick im Wasser. Mausestill und kalt. Aber heute sind wir doch noch warm. Heute Abend noch mal, du. Fisch, sag was, Fisch. Heute Abend schwimmst du mir nicht mehr weg, du. Sei still. Ich glaube dir kein Wort. Aber die Tür, die Tür will ich doch lieber abschließen.

      BECKMANN:

      Lass das. Ich bin kein Fisch und du brauchst die Tür nicht abzuschließen. Nein, du, ich bin weiß Gott kein Fisch.

      MÄDCHEN

      (innig): Fisch! Fisch, du! Du graues repariertes Gespenst.

      BECKMANN

      (ganz abwesend): Mich bedrückt das. Ich ersaufe. Mich erwürgt das. Das kommt, weil ich so schlecht sehe. Das ist ganz und gar nebelig. Aber es erwürgt mich.

      MÄDCHEN

      (ängstlich): Was hast du? Du, was hast du denn? Du?!

      BECKMANN

      (mit wachsender Angst): Ich werde jetzt ganz sachte sachte verrückt. Gib mir meine Brille. Schnell. Das kommt