Schließlich habe ein schwieriges Mädchen (die Enkelin eines ungarischen Filmstars) zu rebellieren begonnen und behauptet, Kate würde lügen. Sie habe ins Feld geführt, dass »Albion« lediglich ein altes Wort für England sei; Kate habe sich nicht einmal einen neuen Namen ausgedacht! Das Mädchen sei aus der Gruppe verstoßen worden, doch sie habe die Albion-Geschichte überall herumerzählt. Dann hätten andere (in der Schule unbeliebte) Kinder begonnen, die Köpfe zusammenzustecken und darüber zu kichern – daran erinnere Sabine sich am lebhaftesten: das Ausgelachtwerden, das ganze Durcheinander des Beliebt- oder Unbeliebtseins, und wie sie dadurch plötzlich zu der Erkenntnis gekommen sei, dass sie nie an Albion geglaubt habe. Es sei nur ein Spiel gewesen, eine Fantasiewelt, wie kleine Kinder sie sich ausdächten.
Dann habe es eine hässliche Szene gegeben, wo Sabine und die anderen beliebten Kinder Kate in eine Ecke getrieben hätten, um von ihr das Geständnis zu erzwingen, dass sie eine Lügnerin sei. Als sie sich geweigert habe, hätten sie Kate beschimpft, und eine von ihnen habe ein belegtes Sandwich auseinandergerupft, das sie gerade aß, und die Einzelteile in Kates langes Haar geschmissen. Kate habe geweint, von ihrer Darstellung jedoch nicht abweichen wollen. Panik sei aufgekommen und habe die Mädchen brutal werden lassen. Ein Mädchen habe Kate mit einer brennenden Zigarette bedroht. Ein anderes habe zu Kate gesagt, sie würde den Krankenwagen rufen, damit er Kate in die Psychiatrie bringe, wo man sie ans Bett fesseln würde. Sabine selbst habe den Raum verlassen, anstatt Kate zu verteidigen – sie sei hinausgerannt, obwohl sie sich in ihrem Haus befunden hätten. Sie sei zu ihrem Freund gerannt, wo sie sich zum ersten Mal betrunken habe, aber das sei eine andere Geschichte.
Sabine habe nie wirklich an Albion geglaubt. Nichtsdestotrotz habe sie den Verlust bedauert. Es habe sich angefühlt, als hätten sie es beinahe wahr werden lassen; als seien sie beinahe jene Götter gewesen, die den Lauf der Geschichte bestimmen würden. Danach habe die Welt ihren Zauber verloren, sie sei ein tristes, lebloses Ding geworden, und sie selbst seien nur mehr unbedeutende Kinder gewesen.
An dieser Stelle hielt Sabine inne. Mittlerweile hatte sie die Gießkanne abgestellt und saß auf dem Fensterbrett. Sie sagte: »Das ist Kate.«
»Okay«, sagte Ben (und verspürte das brennende Bedürfnis, Kate zu verteidigen), »aber was meinst du damit? Was ist Kate?«
Sabine schwieg einen Moment, möglicherweise biss sie auf ihre Zunge. Von oben waren die Geräusche von Menschen zu hören, Schritte, zuschlagende Türen und Stimmen. Irgendwo ging eine Dusche und irgendwo anders ein Föhn. Ben versuchte zu erraten, worauf Sabine hinauswollte, war aber abgelenkt, da Bilder in seinem Kopf entstanden – von Katalogbräuten, die unter Duschen standen und Kongressabgeordneten, die sich die Haare föhnten.
Schließlich sagte Sabine langsam, geradezu bedächtig: »Ich glaube, was ich sagen will, ist Folgendes: Kate lebt nicht in der realen Welt, und ab einem bestimmten Punkt kommen die Leute nicht mehr damit klar und verletzen sie. Wie Nick; er war total verliebt in Kate, doch dann hat er es nicht mehr ausgehalten und sie für Phuong verlassen. Jetzt ist Nick schlecht drauf, und Kate geht zu ihm, als hätte sie sein Leben ruiniert. Was gewissermaßen auch stimmt. Nick ist völlig fertig. Aber trotzdem.«
»Also warnst du mich vor ihr?«, sagte Ben mit bewusst ungläubigem Tonfall.
»Nein«, sagte Sabine. »Das war nicht meine Absicht. Hört es sich so an? Mein Gott, ich bin so ein Arschloch.«
Das war der letzte richtige Satz, den Sabine sagte, denn im Anschluss flog eine Tür auf und die Küche füllte sich jäh mit Sabines Gästen. Da waren der Gartengestalter vom vorigen Abend, die Kongressabgeordnete aus Maine, eine nigerianische Katalogbraut, der ein Schneidezahn fehlte, sowie ein zierlicher Mann mit starker Körperbehaarung, der ein wenig wie ein mürrischer Hamster aussah und dessen Identität nicht geklärt wurde. Dann kamen noch mehr Leute. Die meisten von ihnen trugen identische Kaschmirbademäntel, die Sabine vermutlich für ihre Gäste bereithielt, und strahlten einen schludrigen Bonheur aus; sie freuten sich daran, hier zu sein. Als alle Stühle belegt waren, setzten sie sich auf den Boden oder hockten sich auf die Küchentheke. Die Hausangestellte tauchte wieder auf, ein wenig nervös, und das Eierbraten begann von Neuem, während die Hausgäste eine Menge Krach machten und lachten. Sie diskutierten über Arbeitsrecht und Baseball und darüber, ob die Antarktis schmelzen würde. Sie zitierten Ökonomen des 20. Jahrhunderts mit dem Zusatz: »Was totaler Scheiß ist.« Sie erzählten Geschichten von dem Team, das Präsidentin Chens Regierungswechsel vorbereitet hatte, von dem Kampf um das bedingungslose Grundeinkommen und wie ein Mitglied nicht nur gedroht hatte zu kündigen, sondern sich auf dem Parteitag bei lebendigem Leibe zu verbrennen, sollte das Grundeinkommen nicht ins Parteiprogramm aufgenommen werden. Eine Umweltaktivistin interpretierte die Wahlkampfrede eines rechten Kandidaten als schallendes, theatralisch vorgebrachtes Sopranstück zur Melodie von »O Sole Mio«, und die nigerianische Katalogbraut musste so sehr lachen, dass ihr das Rührei aus der Nase kam. Währenddessen unterhielten sich andere über die Chlamydien der Geliebten eines anderen rechten Politikers, kitzelten einander und schimpften: »Revisionist!«, standen auf, um bei der Zubereitung des Frühstücks zu helfen, wurden mit dem Pfannenwender bedroht und schlichen mit einem humoristisch übertriebenen Ausdruck der Niedergeschlagenheit zu ihren Plätzen zurück.
Und Ben ließ sich mitreißen, schwamm auf der Welle seiner aufbrausenden Begeisterung. Dies waren Kates Leute, die besser waren als Leute im Allgemeinen, so wie Kate besser war als Frauen im Allgemeinen. Selbst wenn es um den Haarschnitt der Kongressabgeordneten ging, war ihr Gespräch gewöhnlichem Gerede über Frisuren merklich überlegen: Sie machten botanische Anspielungen, nannten den Haarschnitt anti-intellektuell, lachten dabei sehr fröhlich und erfreuten sich ihrer Gesellschaft. »Es hat was von einem Flokati«, fasste der mürrische Hamster zusammen, und die Kongressabgeordnete erwiderte: »Nun ja, wenn ich ehrlich bin, ist der Flokati meine Lebensgrundlage.« Ben lachte und aß kaltes Toastbrot und stellte sich vor, selbst – zusammen mit Kate – Teil dieser heiteren Welt zu sein, und seine Vermutung, dass sie seine Antwort, sein Fluchtweg sein könnte, wurde zur Gewissheit.
Dann waren Schritte im Flur zu hören, und Ben sah grinsend zur Tür, in Erwartung weiterer Katalogbräute. Doch als die Tür aufging, trat Kate ein.
Sie trug noch das zerknitterte Kleid von gestern, da sie aber von draußen in einen Raum voller Bademäntel und nackter Füße kam, erschien sie äußerst selbstsicher und souverän, als hätte sie den anderen etwas voraus, als sei sie gekommen, um diesen Tag zu ihrem Tag zu machen. Der Hund trottete neben ihr her und sah huldvoll zu ihr auf. Ihre Haare waren vom Wind zerzaust. Sie war schön, wie sie es gestern Abend noch nicht gewesen war, schön im konventionellen Sinne, und Ben fühlte sich wie aus dem Gleichgewicht gebracht. Es gab eine unangenehme Pause. Zum ersten Mal kam ihm in den Sinn, Kate könnte erwartet haben, dass er nach Hause gegangen war. Sie hatte ihn loswerden wollen. Ihr Verschwinden war ein Wink mit dem Zaunpfahl gewesen, nicht gerade subtil. Sabine musste es gewusst haben und hatte ihn warnen wollen. Er war ein Idiot.
Ein unerträgliches Gefühl des Ausgestoßenseins überkam ihm. Er wollte alles einfangen, diesen Morgen und das unbekümmerte Lachen, Kates vom Wind zerzaustes Haar, durch das er mit seinen Händen gefahren war, das ihm gehörte, die glückselige Nacht, von der er ein Teil gewesen war. Sogar den Hund, der ihn nun mit offenem Maul anstarrte, als versuchte er, ihn einzuordnen.
Dann sagte Kate: »Ben! Hast du heute Zeit?«
Für einen kurzen Moment bereitete Ben sich noch auf seinen Abgang vor. Dann fiel der Groschen, scheppernd, aufregend. Ben stand von seinem Stuhl auf. Alles verfiel in Schweigen, als Kate auf ihn zuging und dabei die Hundeleine auf den Boden fallen ließ.