VIREN. Traian Suttles. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Traian Suttles
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783907126424
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die Plasmide der Bakterien geschildert). Noch interessanter sind Beobachtungen, nach denen im Ozean lebende Viren den genetischen Apparat bereits absterbender Einzeller nutzen können. Solche moribunden Zellen – normalerweise Algen – können quasi schon «tot» sein, aber einzelne Bereiche in ihrem sich auflösenden Zellplasma reichen im Meerwasser befindlichen Viren aus, um sich in diesen «Zelltrümmern» noch vermehren zu können! Vor diesem Hintergrund werden verfeinerte Evolutionsszenarien für Viren denkbar; sie könnten primär die großen Mengen absterbenden Zellmaterials, wie sie der Ozean zu bieten hat, für ihre Vermehrungszwecke genutzt haben. Ausgehend von solchen «resteverwertenden» Vorstufen, war das Eindringen in vitale, gesunde Zellen vielleicht erst ein zweiter

      Schritt.

      Doch nicht nur im Hinblick auf nicht-pathogene Viren ergibt sich ein ungewohnter Blick auf diese seltsamen Akteure des Naturgeschehens. Auch die «rein zerstörerischen» Formen, die ihre Wirtszellen ausnahmslos töten, müssen gerade im Ökosystem der Ozeane differenzierter betrachtet werden. Vor allem kommt es in den Weltmeeren immer wieder zu gewaltigen Massenvermehrungen bestimmter Organismen, angefangen mit einzelligen Algen, die auf diese Weise zur Gefahr für andere Meeresbewohner werden (besonders wenn es sich um Giftstoffe produzierende Algen handelt ­– solche gesundheitsgefährdenden Algenblüten kennt man auch aus Süßwasserbiotopen, etwa von gesperrten Badeseen). Einige dieser Meeresalgen, wie etwa Emiliania huxleyi, bilden derartig riesige Wachstumsteppiche aus, dass sie am ehesten mit Satellitenfotos darstellbar sind. Diese riesigen Algenwolken können aber auch sehr schnell wieder verschwinden, und hierfür sind bestimmte, auf Algen spezialisierte Viren wie etwa die Phycodnaviren verantwortlich (eine besondere Virengruppe mit doppelsträngigem DNA-Erbgut, bei denen die Umhüllung von den normalen Bautypen abweichen kann). Es wäre folglich zu kurz gedacht, Viren als bloße «Zerstörer» aufzufassen. Gerade in dieser Eigenschaft können sie die Rolle unersetzlicher Regulatoren einnehmen, womit sie das dringend erforderliche Gegengewicht zu schädlichen Massenvermehrungen anderer Organismen bilden. Weitere Beispiele hierfür

      werden wir im zwölften Kapitel (»Viren als Helfer«) kennenlernen.

      Die frühe Evolutionsgeschichte der Viren spielte sich mit einiger Sicherheit in den Ozeanen ab, und ihre zum Teil erhebliche Bedeutung in den dortigen ökologischen Netzwerken, die wir gerade erst zu verstehen beginnen, bildete sich parallel mit der Ausbreitung des Lebens in den Urmeeren aus. Als sich verschiedene Organismentypen im Laufe der Evolution vom Wasser aufs Land vorkämpften – die Pflanzen vor etwa 470 Millionen Jahren, Tiere vermutlich erstmals vor 425 Millionen Jahren – nahmen sie die Viren wahrscheinlich mit, so dass auch in der Tier- und Pflanzenwelt des Festlandes der ständige evolutive Virus-Wirt-Antagonismus persistierte. In einigen Fällen führten diese wechselseitigen Anpassungen von Angriff und Abwehr zu «toleranten» Lösungen, in denen Viren ihre Wirte nicht mehr zwingend schädigten, in anderen blieben sie in der uns geläufigeren «Killer»-Rolle, aber dann wohl eher für Organismengruppen, die zu saisonalen Massenvermehrungen tendierten. Aus dieser tiefen Einbettung in ökologische Netzwerke wurde an Land wie zuvor im Ozean eine Vielfalt viraler Strategien herangezüchtet, und genau dieser Prozess hält bis heute an. Die Biosphäre wandelt sich, und Viren können dank ihrer Mutabilität auf die meisten Veränderungen rechtzeitig reagieren, indem sie sich zum Beispiel die Option erhalten, von einem bevorzugten Wirt auf neue Neben- und Zwischenwirte überzugehen und diese weiter zu benutzen, wenn der ehemalige Hauptwirt sich als ineffizienter Verbreiter erweist oder gar ausstirbt. Dabei wird alles «angetestet», was in Reichweite ist, und so konnte es geschehen, dass zum Beispiel Influenzaviren (also Grippeviren), die sich an bestimmte Vögel als Hauptwirte angepasst hatten, auf Säugetiere übergingen: von Landsäugern und Robben bis hin zu den Walen der Hochsee. Um ihre enorme Flexibilität und den dadurch gesicherten evolutiven Erfolg bildhaft auszudrücken, könnte man sagen, dass Viren «die Kleinsten» sind, denen es möglich ist, die «Größten» zu besiegen. Sie repräsentieren, wenn man so will, die Hackerzunft der Lebewelt.

      3) Virusgestalten und Virengroßgruppen: Probleme der Klassifikation

      Wenn man die Biosphäre in Tiere, Pflanzen und Pilze einteilt und von deren einzelligen Vertretern die Bakterien als zellkernlose Sondergruppe abtrennt, lassen sich für alle diese Gruppen Angreifer aus der Virosphäre benennen. Für bakterienbefallende Viren lautet der Fachterminus Bakteriophagen (oder kurz «Phagen»). Pilzviren werden informell – also nicht konsequent – als Mykoviren bezeichnet, und von Pflanzenkrankheiten kennt man, neben «normalen» pflanzenpathogenen Viren, auch einen gänzlich «nackten», nur aus RNA-Erbsubstanz bestehenden Sondertyp: die Viroide. Wie bereits in den vorherigen Kapiteln dargelegt, können Viren ihre zellparasitische Strategie überall ausführen, wo sie auf Zellen mit zumindest teilweise funktionalen Stoffwechselmechanismen treffen beziehungsweise auf Zielzellen mit geeigneten Rezeptoren, die ihnen das Andocken mit den Außenproteinen erlauben. Von den theoretischen Rahmenbedingungen her betrachtet, sind alle Organismengruppen der Erde potenziellem Virenbefall ausgesetzt, auch wenn es, aus verschiedensten Gründen, konkrete Ausnahmen geben mag (etwa Moose in der Pflanzen- und Spinnen in der Tierwelt).

      Beginnen wir mit einem kurzen Blick auf jene «nackten» pflanzenspezifischen Viren, die man aufgrund ihres auch sonst recht simplen Erscheinungsbildes Viroide nennt. Ihre Fachbezeichnung könnte man mit «virenähnlich» übersetzen, was sich aber nur auf ihren Bau bezieht, denn ihre Fortpflanzungsstrategie entspricht derjenigen der Normalviren. Sie wurden erst 1971 vom schweizerisch-US-amerikanischen Pflanzenphysiologen Theodor Otto Diener (*1921) entdeckt, nachdem sie zuvor aufgrund ihrer extremen Kleinheit nicht aufgefallen waren. Mit zum Teil deutlich weniger als 400 Nukleinsäurebausteinen sind sie mehr als zehnmal so klein wie etwa die Parvoviren, die mit einem Erbgut aus circa 5000 Nukleotiden schon als sehr kleine Viren gelten. Viroide bestehen stets aus einsträngigen RNA-Molekülen, die zu einem Ring vereinigt, dabei aber – durch intramolekulare Wechselwirkung – zu einer länglichen Form «zusammengezogen» sind. Gemessen an ihrer subviralen Winzigkeit, ist die pathogene Wucht, die einige ihrer Vertreter entfalten, beeindruckend: das Kadang-Kadang-Viroid zum Beispiel kann ganze Kokospalmenbestände verwüsten. Man geht davon aus, dass Viroide durch Verletzungen – wie etwa Insektenfraß – in das Innere von Gefäßpflanzen gelangen (also Pflanzen mit einem Leitbündelsystem, das Wasser und Nährstoffe transportiert). Dort wiederum dringen sie bis in den Zellkern der Wirtszellen vor und lassen sich replizieren. Wodurch sie ihre Pathogenität entfalten, ist im Einzelnen noch unklar. Bislang sind etwa dreißig verschiedene Viroide bekannt; bei einigen fallen die von ihnen hervorgerufenen Krankheitssymptome eher mild aus (etwa Vergilben von Blättern oder anomale Wuchsformen). Ihr mutmaßliches evolutives Hervorgehen aus «Ausschnittsfragmenten» (Introns) von Boten-RNAs haben wir im vorherigen Kapitel schon erwähnt. Viroide entstanden demnach wohl unabhängig von anderen Viren und von den Bakteriophagen, und bis heute kennt man sie nur aus der Pflanzenwelt. Dies bedeutet aber nicht, dass Pflanzen ausschließlich von Viroiden befallen werden: auch «normale» Viren, wie etwa das Tabakmosaikvirus

      (ein stäbchenförmiges Virus mit RNA-Genom), richten in der Pflanzenwelt große Schäden an.

      Tabakmosaikvirus als Beispiel für Viren mit langgezogenem Capsid (gezeigt ist ein Ausschnitt; im elektronenmikroskopischen Bild wirken diese Viren stäbchenförmig). Für solche Capsidformen ist eine helikale, also schraubig-gewundene Anordnung der einzelnen Proteinbestandteile charakteristisch.

      Kommen wir nun zu den besagten Normalviren, von denen einige tausend Arten bekannt sind (bei hoher anzunehmender Dunkelziffer). Da diese im Gegensatz zum ganz nackt daherkommenden Erbgut der Viroide mit einem Capsid, also einem Proteinmantel, ausgestattet sind, kann dessen Ausformung die äußere Gestalt bestimmen. Zwei Grundformen des Capsids treten häufig auf; sie wirken entweder wie bestimmte vielflächige Körper – vornehmlich wie Ikosaeder, also Zwanzigflächner – oder aber helikal, d. h. spiralförmig. Doch auch quaderförmige Capside sind bekannt, wie etwa bei Myxomatoseviren (Kaninchenpestviren). Mit den helikalen Capsiden geht passenderweise eine spiralig aufgewundene Erbsubstanz einher; oft werden sie sehr lang, was dem Virus eine entsprechend stäbchen- oder fadenartige Form verleiht. Solche elongierten Capside können auch in sich ringförmig geschlossen sein, wie bei den Arenaviren (bekanntester Vertreter ist das Lassavirus, welches das gleichnamige Fieber verursacht)