Soziale Arbeit in der Suchthilfe. Marion Laging. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marion Laging
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783170390164
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Menschen in beratenden und behandelnden Kontexten, der ebenfalls entscheidende Bedeutung für die Bewältigung und Genesung zukommt (image Kap. 12).

      Es kann zu Verwerfungen kommen, wenn verantwortliche Menschen nicht als verantwortlich gesehen und behandelt werden. Wenn die bio-medizinische Perspektive in ihrer puristischen Ausprägungsform auch auf intentionales Handeln angewendet wird, führt dies zu einer Objektivierung des Menschen, zu einer bevormundenden, demütigenden Umgangsweise und Herabwürdigung (Morse 2004). Wenn der Wille eines Menschen zur Disposition steht, dann ergeben sich kaum noch Mitspracherechte, z. B. in Hinblick auf Hilfeformen und Behandlungsarten. In aller Regel bringt paternalistisches Verhalten Widerstand hervor, der als Ausdruck des Willens nach Selbstbestimmung zu deuten ist und der die Beziehung zwischen abhängigem Menschen und Berater beeinträchtigen und die Arbeit am »eigentlichen Thema« und eine Krankheitsbewältigung erschweren kann.

      Dies ist insbesondere in der Suchthilfe – in der Kontrollaspekte der Sozialen Arbeit eine besondere Rolle spielen – von hervorgehobener Bedeutung. Einen Ausweg aus diesem Dilemma bietet hier zum einen eine konsequente Trennung von Person und Verhalten. Das Suchtverhalten darf diskutiert und kritisch hinterfragt werden, auch in Hinblick auf die dadurch hervorgerufenen Risiken und Schäden bei der suchtkranken Person und in ihrem Umfeld. Die Person ist aber dabei immer als unverletzbares Subjekt zu betrachten, dem in jeder Situation uneingeschränkt Würde und Respekt zukommt. Zum anderen gewinnt in der Suchtkrankenhilfe nach langen Jahren der Dominanz der abstinenzorientierten Hilfen das Paradigma der »zieloffenen Hilfen« zunehmend an Bedeutung, das den Selbstbestimmungsrechten von abhängigen Menschen Rechnung trägt (image Kap. 8).

      Anonyme Alkoholiker und ihr Suchtverständnis

      Eine besondere, radikale Position in dieser Debatte um die Steuerungsfähigkeit des Menschen bei einer Suchterkrankung nehmen die Anonymen Alkoholiker ein. Sie folgen strikt dem bio-medizinischen Krankheitsmodell und gehen davon aus, dass der »Alkoholiker sein Trinken nicht kontrollieren kann« (Anonyme Alkoholiker: https://www.anonyme-alkoholiker.de/was-ist-al koholismus/).

      Die Erkrankung im Verständnis der Anonymen Alkoholiker ergreift die körperliche, geistige und seelische Dimension des Menschen, ist fortschreitend, und vollständige Genesung und Gesundheit ist nicht mehr erreichbar. Alkoholismus trifft damit einen Menschen wie der Verlust eines Beines. Anonyme Alkoholiker bestreiten jede eigene Steuerungsfähigkeit über den Alkoholkonsum momentan und für die Zukunft: »Der Wahn, dass wir wie andere sind oder je wieder sein können, muss zerschlagen werden« (Anonyme Alkoholiker 2016: 35). Dabei muss aber trotzdem die Frage beantwortet werden, wie es sein kann, dass auf der einen Seite der Kontrollverlust und die Aufgabe der Selbstbestimmung als total beschrieben werden, auf der anderen Seite aber zugleich doch zumindest Linderung in Aussicht gestellt wird und diese für viele Menschen offensichtlich auch schon erreichbar war.

      Dieses Problem wird im Konzept der Anonymen Alkoholiker derart gelöst, dass die eigene fehlende Steuerungskraft externalisierend spirituellen Kräften zugeschrieben wird: »Unser heutiges Dasein basiert auf der absoluten Gewissheit, dass unser Schöpfer auf eine wunderbare Art den Weg zu unseren Herzen gefunden hat und in unser Leben eingetreten ist. Er hat für uns Dinge vollendet, die wir aus eigener Kraft nie zustande gebracht hätten« (Anonyme Alkoholiker 2016: 30). So gelingt es, radikal am Konzept der permanent und unwiderrufbar aufgelösten eigenen Steuerungsfähigkeit festzuhalten und gleichzeitig Genesung möglich zu machen und zu erklären.

      1.7 Ein bio-psycho-soziales Verständnis von Gesundheit, Krankheit und Sucht

      Vor dem Hintergrund eines Wandels im Krankheitspanorama wurde in den 1970er Jahren ein Perspektivwechsel von der bio-medizinischen Perspektive zur bio-psycho-sozialen Perspektive eingeläutet. Die Bedeutung der Infektionskrankheiten nahm durch die breite Verfügbarkeit von Antibiotika und durch verbesserte hygienische Bedingungen ab; hingegen gewannen die chronischen und chronisch-degenerativen Erkrankungen (z. B. Herz-Kreislaufstörungen) im Gesamtspektrum der Erkrankungen an Bedeutsamkeit, ebenso wie die psychischen Störungen, zu denen auch die Suchterkrankungen zählen. Das bio-medizinische Modell, das im Hintergrund der großen medizinischen Fortschritte des vergangenen Jahrhunderts stand (z. B. bei der Bekämpfung von Infektionskrankheiten) und einen weitgehend »moralfreien« und damit entlastenden Blick auf Erkrankungen und Erkrankte erlaubt hatte (s. o.), stand nun zunehmend in der Kritik (Pauls 2013: 98). Die Einwände zielten zum einen darauf, dass im Rahmen des bio-medizinischen Modells der erkrankte Mensch zum Erduldenden und Erleidenden passiviert wird und ihm Subjektivität, Gestaltungswille und -kraft abgesprochen werden. Zum anderen sind im bio-medizinischen Modell die biografischen und sozialen Komponenten aus Krankheitsentwicklung, Krankheitsgeschehen und Krankheitsbewältigung ausgeblendet, Krankheit wird »entpersonalisiert« und »entsozialisiert« (Pauls 2013: 96).

      Der Psychiater Engel legte im Jahr 1977 (Engel 2012) ein bio-psycho-soziales Krankheitsmodell vor, das er neben den somatischen auch psycho-soziale Faktoren zur Erklärung von Erkrankungen heranzog. Damit wurde das Modell des Menschen als einer Art komplexen Maschine abgelöst von einem Modell des Menschen als einem körperlich-seelischen Wesen in seiner ökosozialen Lebenswelt. Die grundlegende Idee dieses Modells besteht darin, dass drei große Bedingungsgefüge von Krankheitsentwicklung existieren – biologisch-organisch, psychisch und sozial –, die in einem sich kontinuierlich ändernden Wechselverhältnis zueinanderstehen (Pauls 2013: 98f). Soziale Faktoren sind in diesem Modell als kausale Faktoren für die Krankheitsentwicklung bedeutsam. Eine grobe Adaptation dieses Modells findet sich in dem multifaktoriellen Modell zur Suchtentwicklung von Kielholz und Ladewig wieder (image Kap. 2), in dem die Ursachen einer Suchtentwicklung den drei großen Bedingungsfaktoren Mensch – Umwelt – Droge zugeordnet werden. Die Bedeutsamkeit sozialer Faktoren für Suchtentwicklung und Suchtbewältigung gilt mittlerweile als gut belegt (image Kap. 5; image Kap. 6; image Kap. 7).

      1.8 Die salutogenetische Perspektive

      Eine Erweiterung des bio-psycho-sozialen Krankheitsmodells wurde mit dem Konzept der Salutogenese von Antonovsky vorgelegt: Die Salutogenese fragt nicht danach, was den Menschen krankmacht, sondern versucht zu ergründen, warum Menschen trotz Belastungen und Risiken aus dem bio-psycho-sozialen Spektrum gesund bleiben. Neben diesem Blick auf Gesundheit hat die Salutogenese den entscheidenden Beitrag geleistet, Menschen nicht dichotom in gesund und krank zu klassifizieren, sondern ihre jeweiligen Zustände auf einem multidimensionalen Gesundheits-Krankheits-Kontinuum zu lokalisieren (Pauls 2013: 103). Damit ergeben sich auch entscheidende neue Perspektiven für die Betrachtung einer Suchterkrankung und ihrer Bewältigungs- und Genesungsmöglichkeit: Es mag sein, dass der Wille und die Steuerungsfähigkeit eines Menschen zu großen Teilen beschädigt sind, aber es gilt, die gesunden Anteile zu identifizieren, dem Bewusstsein zugänglich zu machen und diese zu stärken. Damit wird die Ressourcenorientierung zu einem zentralen Anknüpfungspunkt für eine Genesung.

      Mit der dichotomen Festsetzung von Gesundheit und Krankheit als zwei sich gegenseitig ausschließende Zustände werden auch zugleich bestimmte Normwerte für Gesundheit und Krankheit festgelegt und kommuniziert. Wenn Krankheit als Abnormität definiert wird, wird damit zugleich Gesundheit als Normalität