Schreiben und Lesen im Altisländischen. Kevin Müller. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Kevin Müller
Издательство: Bookwire
Серия: Beiträge zur nordischen Philologie
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783772001116
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beim Schreiben mitspricht. Bei den Materialien kommen hingegen auch andere Werte als Pergament in Frage. Diese resultieren aus Constraints mit dem SCHRIFTTRÄGER, denn die Blätter des Kodex bestehen aus Pergament, aber die Wachstafel ist mit Wachs beschichtet. Dies gilt auch für das SCHREIBWERKZEUG: Für das Pergament braucht es in der Regel eine Feder, für die Wachstafel einen Griffel. Diese eindeutigen Relationen erklären, dass diese Attribute meistens eine Leerstelle bleiben.

      Zum Schluss bleiben noch die beiden Attribute ZEIT und ZWECK übrig, die nicht nur im vorliegenden Korpus selten vorkommen, sondern auch im ONP (rita, ríta) nur wenige Belege haben. In der Sturlunga saga lässt sich das Attribut ZEIT einmal nachweisen, für das es auch im ONP keine vergleichbaren Belege gibt. Die Nennung der Zeit grenzt das Schreiben lediglich von anderen Tätigkeiten eines Geistlichen ab, so dass das Attribut für den Frame wohl nur eine marginale Rolle spielt.

      Für das Attribut ZWECK ist ein Beleg aus dem Prolog der Strengleikar in Glauser (2010: 332) von Interesse, weil dort gleich drei Werte genannt werden: „[…] þæim sogum er margfroðer menn gærðo […] ok a bokom leto rita. til ævenlægrar aminningar til skæmtanar. ok margfrœðes viðr komande þioða“ (Strengleikar: 4–7). ‚[…] den Geschichten, die vielwissende Leute machten […], und zum ewigen Andenken, zur Unterhaltung und Wissensvermehrung künftiger Völker auf Bücher schreiben liessen‘ (Übers. KM). Die Werte margfrœði ‚Vielwissen‘ und skemtan/-un ‚Unterhaltung‘ sind semantisch nahe an kenslu ‚Unterricht‘ in der Jóns saga helga und gaman ‚Vergnügen‘ in der Mágus saga jarls (vgl. Kap. II.3.1.2.). Hinzu kommt noch áminning ‚Erinnerung, Andenken‘. Welcher Wert für das Attribut ZWECK zutrifft, hängt stark vom jeweiligen Text ab, der geschrieben wird. So dienen Geschichten der Unterhaltung und Bildung, Psalterien der Andacht oder Urkunden der Beglaubigung. Auch hier können entsprechende Werte über Constraints inferiert werden und setzen die Kenntnis der Attribut- und Werteframes voraus.

      Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Konzepte von rita/ríta in der Sturlunga saga sich von jenen in den beiden Redaktionen der Jóns saga helga kaum unterscheiden. Ein Abgleich mit Texten ausserhalb des vorliegenden Korpus bestätigt die Struktur des Frames und die Valenz weitgehend. Dennoch konnten einige Attribute im vorliegenden Korpus nicht nachgewiesen werden.

      Die Analyse des Verbs rita/ríta hat gezeigt, dass es zwei Frames evozieren kann, die bisher nur ansatzweise unterschieden wurden. Zum Schreibframe gehören SCHREIBER (ritari) als Agens, SKRIPT als Thema oder Präpositionalobjekt í e-t/e-u, INHALT als Thema oder Präpositionalobjekt um e-t, TEIL (hlutr) als Thema, SCHRIFTTRÄGER als Präpositionalobjekt á e-t/e-u, QUELLE als Präpositionalobjekt eptir e-u, STOFF (efni) als Präpositionalobjekt af e-u, GRAPHIE als Adverb oder Konstruktionen wie með e-m hætti, ZEIT als Adverbiale und AUFTRAGGEBER als Causer oder Dativobjekt. In der Verwendung der Ergänzung gibt es innerhalb und ausserhalb des vorliegenden Korpus nur geringe Abweichungen. Die folgenden Attribute konnten im vorliegenden Korpus nicht als Ergänzung nachgewiesen werden: KÖRPERTEIL als Dativ- oder Präpositionalobjekt með e-u, SCHREIBMATERIAL und -WERKZEUG (ritfœri) als Präpositionalobjekt með e-u, SCHRIFTSYSTEM als Thema, Dativobjekt oder Präpositionalobjekt með e-u, SPRACHE (mál, tunga) als Thema oder Präpositionalobjekt á e-t/e-u oder at e-u und ZWECK als Präpositionalobjekt til e-s. Diese Attribute evoziert das Verb rita/ríta und man muss sie und ihre Werte kennen, um es zu verstehen.

      Dieser umfangreiche Frame zeigt, dass rita/ríta weit mehr beinhaltet als nur Auf- oder Abschreiben. Im Zentrum steht der SCHREIBER, der ein SKRIPT herstellt. Die körperlichen, technischen, materiellen und linguistischen Aspekte sind weitgehend standardisiert, so dass sie in der Regel eine Leerstelle bilden und als Wissen vorausgesetzt werden können. Als Füllung erscheinen sie nur, wenn die Werte von diesem Default abweichen oder wenn bestimmte Aspekte hervorgehoben werden sollen, besonders in spezifischen Reflexionen wie in den grammatischen Traktaten. Das Schreiben umfasst aber noch weitere Attribute: Das SKRIPT besteht aus TEILEN und hat eine GRAPHIE, einen INHALT und SCHRIFTTRÄGER. Es entsteht für einen AUFTRAGGEBER und dient einem ZWECK. Zudem setzt es sich aus einem STOFF zusammen, der in QUELLEN überliefert ist. Die Werte dieser Attribute sind variabler und deshalb seltener Leerstellen. Zudem können diverse Werte aus dem Kontext oder über Constraints inferiert werden.

      Der Korrespondenzframe ist hingegen enger. Er wird zwar ansatzweise bei Baetke (2002: 503) und Lönnroth (1964: 54) berücksichtigt, aber eine klare Grenze zum Schreibframe wird bei diesen Autoren nicht gezogen. Das Agens verweist im Korrespondenzframe auf den ABSENDER, das Thema auf die BOTSCHAFT oder den SCHRIFTTRÄGER, das Präpositionalobjekt með e-m auf den BOTEN, das Präpositionalobjekt með e-u auf das Siegel und das Präpositionalobjekt til e-s auf den EMPFÄNGER. In enger Beziehung mit dem EMPFÄNGER steht das ZIEL, das durch Richtungsadverbien ausgedrückt werden kann. Die Prozesse in der Korrespondenz sind ebenfalls weitgehend standardisiert, so dass diverse Attribute des Schreibframes hier eine Leerstelle bilden. Der Schreiber handelt im Auftrag des Absenders, das Schreiben richtet sich nach dem Briefformular etc. Das Schreiben bildet nur einen Teil dieses Frames, denn der Brief muss auch verfasst, diktiert, gesiegelt, überbracht und verlesen werden. Die beiden Frames können nur anhand bestimmter Ergänzungen oder Werte voneinander unterschieden werden.

      4. skrásetja

      Das Verb skrásetja hat laut Baetke (2002: 563) die Bedeutung ‚niederschreiben, aufzeichnen‘, welche mit Fritzner (1886–96: III, 375) optegne ‚aufzeichnen‘, nedskrive ‚niederschreiben‘ übereinstimmt. Fritzner nennt unter dem Lemma zudem die Synonyme skrá, gera bzw. setja á skrá. In den etymologischen Wörterbüchern von de Vries (1962) und Blöndal (2008) fehlt ein Lemma skrásetja. Das Verb setzt sich aus dem Substantiv skrá ‚Pergament, Schriftstück, Aufzeichnung, Dokument, Buch‘ (vgl. Baetke 2002: 563, Fritzner 1886–96: III, 374) und dem Verb setja ‚setzen‘ (vgl. Baetke 2002: 527, Fritzner 1886–96: III, 213–219) zusammen. Wahrscheinlich handelt es sich um eine Juxtaposition des in Fritzner (1886–96: III, 375) als Synonym erwähnten Syntagmas á skrá setja ‚aufs Pergament setzen‘. Laut ONP (skrásetja) ist dieses Verb seit dem zweiten Drittel des 13. Jahrhunderts bezeugt. Im vorliegenden Korpus lässt es sich einzig in der Sturlunga saga mit zwei Belegen nachweisen.

      Der erste Beleg stammt aus der Þórðar saga kakala und ist in der Króksfjarðarbók erhalten. Als Þórðr kakali dem König eine Rolle mit den Händeln zwischen den Familien der Haukdœlir und Sturlungar vorlesen lassen hatte, fragte König Hákon Gizurr Þorvaldsson, was er darauf zu erwidern habe. Gizurr antwortet darauf in direkter Rede: a) „ecki hefir ek skra-sett sagnir minar“ (StS2 100) ‚Ich habe meine Aussagen nicht aufs Pergament gesetzt‘ (Übers. KM). Es fragt sich, ob Gizurr, auf den das Personalpronomen ek ‚ich‘ im Subjekt verweist, der SCHREIBER oder der AUFTRAGGEBER ist. Sein Kontrahent Þórðr kakali liess seine Aussagen aufschreiben (lét rita/ríta, vgl. Kap. II.2.2.6.b.), so dass die Rollenverteilung bei ihm klar ist. Diese Verteilung liesse sich auf Gizurr übertragen. Die Konstruktion hafa + Part. Prät. kann nicht nur als Perfekt, sondern auch als Resultativ gedeutet werden, so dass bei einer resultativen Funktion Gizurr seine Aussagen lediglich in geschriebener Form bei sich und nicht selbst niedergeschrieben hätte. Es ist aber auch denkbar, dass sich Gizurr mit einer gewissen Ironie als Schreiber darstellt, um seine Geringschätzung dem neuen Medium Schrift gegenüber auszudrücken, dessen sich Þórðr bedient. Das Attribut, auf welches das Subjekt referiert, lässt sich an dieser Stelle nicht eindeutig klären. Das Akkusativobjekt enthält das Lexem sǫgn ‚Aussage‘, welches als Wert für das Attribut INHALT steht. Das Verb impliziert mit dem Modifikator skrá den Beschreibstoff Pergament, so dass als SCHRIFTTRÄGER ebenfalls ein Pergamentblatt oder eine Rolle wie bei Þórðr als SCHRIFTTRÄGER zu erwarten wäre. Das Attribut SCHRIFTTRÄGER kommt in anderen Texten dennoch als Füllung vor wie beispielsweise á bók, í altíðabók, í kvaterni (vgl. Fritzner 1886–96: III, 375, ONP skrásetja). In der Struktur des Frames wie auch in der Valenz unterscheidet sich skrásetja also nicht von