»Sie hat da diesen tollen Typen kennengelernt. Ganz anderes Kaliber als Toby, ihr Freund. Hat echt Knete, der Mann. Und so ein tolles Auto!« Ihre Augen leuchteten.
Russel hörte aber auch einen Hauch von Neid in ihrer Stimme. »Und mit diesem tollen Typen will sie ein paar unbeschwerte Tage verbringen?«, gab er ein Stichwort, als Gina keinen Anstalten machte, von selbst fortzufahren.
»Nein. Jedenfalls nicht so. Er ist Fotograf für ein Modemagazin und hat Eddie wegen ihrer megatollen Haare ausgesucht. Und wohl auch wegen«, sie zuckte mit den Schultern, »na ja, allem anderen.«
Diesmal klang der Neid unverhohlen durch. Und Russel ahnte, wie die Geschichte weiterging.
»Jedenfalls ist sie mit ihm zu einem Fotoshooting gefahren.«
Er verkniff sich, missbilligend den Kopf zu schütteln. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, wie es möglich war, dass intelligente junge und auch manche etwas ältere Frauen so dämlich sein konnten, auf diese Masche reinzufallen. Diejenigen, denen es nicht auf den damit verbundenen »Ruhm« ankam, lockte das scheinbar schnell und leicht verdiente Geld. Was offenbar Grund genug war, ihren Verstand auf Urlaub zu schicken und ernsthaft zu glauben, echte Profi-Fotografen würden irgendwelche Frauen von der Straße weg engagieren. Frauen, die vom Modeln keine Ahnung hatten und nicht einmal umwerfend aussahen. Denn Edana Rafferty war zwar recht hübsch, konnte aber mit den Profi-Models nicht konkurrieren.
»Und hat sie sich seitdem bei Ihnen gemeldet?«, wollte Russel wissen, obwohl er die Antwort zu kennen glaubte. Wer tagelang in den sozialen Medien schwieg, tat das auch gegenüber der besten Freundin, wenn auch nicht unbedingt freiwillig.
Gina Rossi sah ihn unsicher an. »Eh, nein.«
»Und das hat Sie nicht misstrauisch gemacht?«
Sie bekam große Augen. Offenbar dämmerte ihr endlich, dass ihre Freundin tatsächlich in Gefahr sein könnte.
»Haben Sie sie zu erreichen versucht?«
»Ja, aber sie hat ihr Handy ausgeschaltet.«
Noch ein Alarmzeichen. »Und auch das hat Sie nicht misstrauisch gemacht«, resümierte Russel.
Gina wurde blass. »Per amor di Dio! Bei der Liebe Gottes! Sie glauben wirklich, ihr ist etwas passiert?«
»Danach sieht es aus.« Russel sah keine Veranlassung, die junge Frau zu schonen. »Wissen Sie, wie der Mann heißt? Oder wo er wohnt? Wo Eddie sich mit ihm treffen wollte? Das Autokennzeichen – oder irgendetwas?«
Gina setzte ihren Rucksack ab, kramte darin herum und förderte schließlich eine zerknautschte Visitenkarte zutage. Sie reichte sie Russel. »Die hat er uns gegeben.«
Wieder fragte er sich, wo Edana Rafferty und auch Gina Rossi ihren Verstand gelassen hatten, denn die Karte gab bis auf den Namen »Ron Cooper« nur sehr dürftige Auskunft: Fotograf als Beruf und eine Handynummer. Kleingedruckt darunter: »Modeagentur NorRep« und ebenfalls eine Mobilnummer. Keine Adresse, nicht einmal eine E-Mail-Adresse. Für Russel ein auf den ersten Blick erkennbarer Fake. NorRep – buchstabierte man Ron rückwärts, erhielt man »Nor«. Tat man dasselbe mit der letzten Silbe von »Cooper«, erhielt man »rep«.
Er nahm sein Smartphone und rief die Nummer von Cooper an. Sein Anruf wurde auf eine Mailbox umgeleitet, deren Ansage ihm mitteilte, dass der Inhaber der gewählten Nummer derzeit nicht erreichbar sei, man aber eine Nachricht hinterlassen könne. Dasselbe bei der angeblichen Agentur. Eine echte Mode- oder sonstige Agentur, die nur eine einzige Mobilnummer besaß und diese auch noch zu normalen Geschäftszeiten auf Mailbox geschaltet hatte, gab es nicht.
»Sie ist auf einen Gauner reingefallen«, stellte er fest und blickte Gina Rossi eindringlich an. »Ich muss alles erfahren, was Sie über diesen Cooper wissen und was Ihre Freundin Ihnen erzählt hat. Und zwar wahrheitsgemäß. Eddies Leben könnte davon abhängen.« Wofür es hoffentlich nicht schon zu spät war.
»Madonna mia!« Gina brach in Tränen aus. »Das konnte ich doch nicht wissen.«
Wissen nicht. Aber mit etwas gesundem Menschenverstand … Doch der setzte eben aus, wenn ein Traum – eine Illusion – wahr zu werden schien. Und Gauner wie dieser Ron Cooper waren in der Regel Meister der Manipulation, die es schafften, bei ihren Opfern den Eindruck zu erwecken, alles, was die auf ihre Anweisung hin taten, geschähe freiwillig.
»Reißen Sie sich bitte zusammen, Miss Rossi. Eddie braucht jetzt Ihre Hilfe. Also, was wissen Sie?«
»Sie hat sich mit ihm im Cliff Townhouse getroffen. St Stephen’s Green. Dort sollte auch das Shooting stattfinden.«
Und das war vier Tage her. Hoffentlich war es noch nicht zu spät. Russel stellte Gina noch ein paar weitere Fragen, aber sie konnte zu Ron Cooper oder Edana Raffertys Plänen nichts weiter sagen. Russel glaubte ihr, denn ihre Besorgnis und auch Reue erschienen ihm aufrichtig. Er verabschiedete sich und fuhr zum Cliff Townhouse.
Das Hotel gehörte zur gehobenen Klasse mit vier Sternen und einem Zimmerpreis ab zweihundert Euro aufwärts, obwohl es nicht übermäßig groß war. Der angebliche Fotograf hatte bestimmt kein kleines Zimmer gemietet, denn das würde potenzielle Opfer nicht davon überzeugen, dass er zu den Reichen gehörte und sie ebenfalls reich machen konnte. Da musste schon ein größeres her, besonders wenn darin auch ein Fotoshooting stattfinden sollte.
Russel zog sich das Jackett über, das er immer im Wagen hatte, wenn er als Detektiv unterwegs war. In manchen Situationen und vor allem Örtlichkeiten wie dem Cliff Townhouse war es vorteilhafter, möglichst seriös zu wirken. Ein Jackett zu Jeans und Rollkragenpullover oder Polohemd ließ ihn zwar nicht unbedingt wie jemanden aus der Upper Class erscheinen, aber er wirkte darin auch nicht wie ein Dockarbeiter.
Er betrat das Hotel und ging zur Rezeption, wo eine Dame in adrettem schwarzen Dress ihm zulächelte. Russel stellte sich als Privatermittler vor und fragte nach Ron Cooper.
»Es tut mir leid, Sir, aber über unsere Gäste geben wir keine Auskunft«, lautete die von einem Lächeln begleitete Antwort.
Damit hatte Russel gerechnet, denn in guten Hotels war Diskretion eines der obersten Gebote. Er zeigte das Foto von Edana Rafferty. »Ist oder war diese junge Dame ebenfalls Ihr Gast?«
»Auch darüber darf ich Ihnen keine Auskunft geben.«
Was ein klares Ja war, denn wäre dem nicht so, hätte die Frau das verneint. Schließlich galt das Diskretionsgebot nur für Gäste und nicht für Leute, die nie dort gewesen waren.
»Die junge Frau wurde möglicherweise entführt und befindet sich vielleicht in Lebensgefahr«, versuchte Russel, ihre Hilfe zu gewinnen.
Keine Chance. »Das wäre dann ein Fall für die Polizei«, stellte die Concierge sich stur. »Ich hole wohl am besten den Manager.«
»Sehr gute Idee«, stimmte Russel ihr zu. »Und ich rufe inzwischen die Polizei.« Er nahm sein Smartphone und rief Declan an. »Garda Síochána?«, vergewisserte er sich scheinbar, als der Freund sich meldete, um Declan zu signalisieren, dass er nicht zum Plaudern anrief.
»Was gibt es, Russ? Brauchst du meine Hilfe?«
»Ich ermittle in einem möglichen Entführungsfall und die Spur führte mich ins Cliff Townhouse, wo ich gerade bin. Leider ist man hier sehr unkooperativ. Aber wenn meine Vermutung zutrifft, befindet sich das Opfer in Gefahr.«
»Das ist Unsinn«, wehrte die Concierge ab und legte den Telefonhörer auf, mit dem sie ihren Chef angerufen und »ein Problem« gemeldet hatte. »Die junge Frau ist Mr Coopers Freundin und die beiden sind sehr verliebt.«
Also waren beide hier, wie Russel vermutet hatte.
»Könnte das der Fall sein?«, überlegte Declan, der das mitgehört hatte.
»Möglicherweise glaubt sie das, aber ich habe Indizien, die dem widersprechen«, antwortete Russel ihm und der Empfangsdame gleichermaßen.