»Falls jeder davon auch nur einen Teil von dem enthält, was in den ersten beiden ist, sollte das mehr als ausreichen, um unsere Heimkehr zu rechtfertigen, finden Sie nicht?«
Der Doktor lächelte.
Nikolai war nicht gierig, aber er fühlte unweigerlich Begeisterung in seiner Brust. Er würde diesen Schatz natürlich ohne Frage mit seinen Männern teilen, aber er musste erst einmal herausfinden, was sie da genau gefunden hatten. Er ging bis ans Ende der Kammer und befand sich nun direkt vor den Stapeln aus Knochen. Er beugte sich hinab und hob den Deckel des Korbs an, der ganz hinten stand.
Noch mehr Staub drang aus dem gerade geöffneten Behälter und er wedelte hektisch mit der Hand in der Luft umher. Dann hielt er die Fackel näher an die Öffnung des Korbes und sah hinein.
Er war leer.
Das war eigenartig. Er öffnete den Korb direkt daneben. Auch dieser war leer, abgesehen von ein paar Werkzeugen.
Er dachte kurz darüber nach, den Doktor zurückzurufen, entschied sich dann aber dagegen. Warum hatte man sie hier beigesetzt?, fragte er sich. Und warum hatte jemand einen fast leeren Korb als Tribut neben die Verstorbenen platziert?
Oder war ihm jemand zuvorgekommen und hatte die Körbe bereits geleert? Doch das alles ergab keinen Sinn. Denn jeder, der diese Höhle entdeckt hätte, hätte sie garantiert ihrer Schätze beraubt und nichts von Wert zurückgelassen, und außerdem hätten sie die Körbe bestimmt nicht wieder sorgfältig verschlossen. Diebe waren schließlich nicht für ihren Ordnungssinn bekannt.
Und doch waren diese beiden Körbe leer. Er hob noch einmal einen der Behälter hoch und drehte ihn vor seinen Augen hin und her. Er begutachtete die Kanten am Boden, die fest vernäht waren, woraufhin ein paar der Dinge im Inneren umherrutschten … mehrere kleine Pfeifen, eine Tonschale und einige Stöckchen und Steinchen.
Erst als er husten musste, fiel ihm auf, wie dicht der Staub in der Luft auf einmal geworden war. Mit wedelnden Händen trat er von der Grabstätte zurück. Er hustete erneut und spürte wie sich seine Lunge verkrampfte.
Er ging zurück in Richtung Ausgang, wo die Decke wieder niedriger wurde, und trat dann hinaus auf die Lichtung. Inzwischen war es vollkommen dunkel geworden und Tausende von Sternen leuchteten auf ihn herab. Nach Atem ringend, sank er auf die Knie. Er zwang sich, mehrmals tief Luft zu holen und seine Lunge zu öffnen. Er rutschte noch ein Stück vorwärts und rollte sich dann auf den Rücken in den Schnee.
Nikolai hatte Mühe, seine Gedanken zu ordnen, und schloss deshalb kurz die Augen.
Ich muss durchatmen. Bewusst und kontrolliert atmete er mehrmals tief ein und aus, bis er das Gefühl hatte, dass der Staub seinen Körper wieder verlassen hatte. Seine Atmung wurde nun wieder normal.
In diesem Moment hörte er die stapfenden Schritte der Männer, die sich der Lichtung näherten. Er stand auf und klopfte sich den Schnee vom Rücken, dann hob er den Kopf und ging den Männern entgegen. »Habt ihr die Taschen mitgebracht?«
»Jawohl, Sir. Wo ist die Höhle?« Die Stimme gehörte Lev, dem riesigen Bären von einem Mann, der jetzt als Erster aus dem Wald stapfte. Seine Augen waren weit aufgerissen und sein heftiger Atem stieß sichtbar aus Mund und Nase hervor. Die Narben auf seinem Gesicht und Körper sprachen von einem harten Leben als Soldat und Waldläufer im Dienste seines Heimatlandes.
Nikolai genoss dessen Gesellschaft stets und vertraute auf dessen Fähigkeiten als passionierter Naturforscher, da er ebenso bewandert war wie er selbst.
Nikolai wies auf den Eingang. Die Gruppe, die aus fünfzehn Männern bestand, lief hinein und kam kurz darauf mit prall gefüllten Taschen wieder zum Vorschein. Das Unterfangen dauerte nur eine halbe Stunde und anschließend versammelten sich alle vor Nikolai auf der Lichtung. Nur vier der Körbe waren leer gewesen, einschließlich der zwei, die Nikolai gefunden hatte.
Falls die Männer vorher schon ausgelassen gewesen waren, waren sie nun wie berauscht vor Freude. Sie wussten, dass ihr Anführer ein gerechter und ehrlicher Mann war und jeder von ihnen einen gehörigen Anteil an ihrer Entdeckung bekommen würde. Der beste Kartograf unter ihnen, Roruk, machte nun Aufzeichnungen in einem kleinen Notizbuch, das er aus seiner Tasche geholt hatte. Er verzeichnete dabei die Größe der Lichtung, wofür er seine Schritte zählte und skizzierte dann alles in seinem Buch.
Als er fertig war, nickte er Nikolai zu und sie alle kehrten zu ihrem Lager zurück.
»Morgen reisen wir ab«, verkündete Nikolai, als die anderen Männer sich um ihn herum versammelt hatten. »Wir haben nun zu viel Gewicht bei uns, um die Expedition fortzuführen, und mit den Vorräten, die wir noch dazu transportieren müssen, wird es schon schwer genug.«
Jubel brach um das Lagerfeuer herum aus und die Männer begannen nun zu singen. Nikolai wunderte sich, dass die Männer ohne Zuhilfenahme von Alkohol so fröhlich sein konnten, aber er konnte ihnen ihre ausgelassene Stimmung nicht verübeln.
Wortlos entfernte er sich von Lev und dem Doktor und betrat sein Zelt. Als Leiter der Expedition musste er es mit niemandem teilen und er genoss dieses Privileg sehr. Er legte seinen Mantel ab und machte es sich auf seiner Pritsche gemütlich.
Der Lärm um das Feuer herum wuchs immer mehr an, aber Nikolai nahm es kaum wahr. Er fühlte sich, als stünde sein kompletter Geist in Flammen und als würde sein Kopf über einen Topf kochenden Wassers gehalten. Er begann zu schwitzen und seine Hände und Arme fingen an zu jucken. Nikolai konnte das brennende Gefühl irgendwann kaum noch ertragen und erwägte den Doktor um Hilfe zu bitten, doch bevor ihm das gelang, fiel er in einen willkommenen und tiefen Schlaf.
Prolog III
Alexei Expedition
Nordwestterritorium, Kanada
1704
Nikolai erwachte am nächsten Morgen und vernahm etwas Eigenartiges:
Stille.
Reine Winterstille. Solch eine Ruhe hatte er nicht mehr erlebt, seit sie Russland verlassen hatten. Es war der Klang seiner Jugend … intensiv und einschüchternd. Nikolai hätte sie normalerweise mit einem Schniefen und einem tiefen, befriedigenden Atemzug begrüßt, aber dieser Morgen hätte nicht so ruhig sein sollen, und das machte ihm Angst. Eine Expeditionsgruppe von nahezu dreißig Mann erzeugte unweigerlich einen beachtlichen Lärmpegel.
Er warf seine Decken beiseite und stand auf. Sein Kopf streifte die obere Zeltstange, als er den Stoff zur Seite schob. Das Feuer war niedergebrannt und kleine Wirbel kalter Asche stiegen in der sanften Brise auf und erzeugten den Eindruck von Rauch. Die Ansammlung von Zelten war in einem Kreis rund um das Feuer herum platziert worden, wie die Speichen eines Wagenrades. Sein Zelt war das am weitesten im Norden gelegene und an beiden Seiten durch einige Bäume von den anderen getrennt. Die Zelte waren von traditioneller Art, zwei aufrechte Stangen und eine, die horizontal darüber lag, überspannt von einem Tuch, das an den Ecken in den Boden gepflockt war. Jedes Zelt war tadellos errichtet worden, alle lagen in perfektem Abstand zueinander und eines sah exakt so aus wie das andere. Es waren gute Männer, dessen war Nikolai sich bewusst, und solche kleinen Details waren ihnen äußerst wichtig. Aber wo waren sie? Warum beschäftigten sie sich nicht bereits mit den Vorbereitungen für ihre lange Reise zurück in ihre Heimat?
»Doktor? Lev?«, rief er. Er betrat das nächstgelegene Zelt und fand die beiden Männer schlafend unter ihren Bergen von Decken und Pelzen vor. Er trat mit seinem ungeschnürten Stiefel vorsichtig gegen die Pritsche des Doktors und rief ihn erneut.
Als eine Antwort ausblieb, zog Nikolai die Decken vom Kopf des Mannes. Die unterste, ein grob gewebter Stoff, blieb allerdings an etwas hängen. Mit einem kräftigeren Ruck löste er die Decke und entblößte das Gesicht des Doktors, das zerfressen von einem Ausschlag und übersät mit roten Pusteln war.
Erschrocken stolperte Nikolai einen Schritt zurück. Ein Stück Haut an der Stirn des armen Mannes war an der Decke zurückgeblieben,