Eine Kupplerin aus dem Nachbardorf hatte die Heirat eingefädelt, und Mutter wiederholte immer wieder, was für ein Glück es gewesen sei, dass Malika ein so hübsches Gesicht hatte und darüber hinaus Urus-Martan zu weit entfernt lag, um sich dort ernsthaft um das beschämende Verschwinden ihres Mannes zu kümmern. Malika willigte schon ein, bevor sie ihren Bräutigam überhaupt gesehen hatte, denn sie würde in die Stadt ziehen und einen Ehemann mit einem deutschen Auto bekommen. Es wurde geheiratet. Sie zog weg. Seitdem hatte sie ihre Schwester nur ein einziges Mal gesehen, Malika war mit ihren Schwiegereltern im Hochsommer in das Aul gekommen, weil die Nihaloyskie-Wasserfälle angeblich gut für die Fruchtbarkeit waren, und auf dem Weg dorthin hatten sie einen Abstecher ins Dorf gemacht. Sie trug nun ein Tuch auf dem Kopf, wie es sich für eine verheiratete Frau gehörte, und ein knöchellanges Kleid.
Jetzt aber fragte sich Nura, ob ihre Schwester glücklich war. Und wie Malikas Glück überhaupt aussehen könnte. Würde man es erkennen? Würde man es ihr ansehen? Oder war Malikas Glück farb- und geruchlos, still und unauffällig, verschwommen wie dieser Nebel? Damals war sie sehr still gewesen, stiller als sonst, und hatte etwas verschreckt gewirkt, verunsichert, als hätte sie es verlernt, hier zu sein, in der Nähe ihrer Mutter und Schwestern, im Dorf und nicht in der Stadt, als hätte sie es verlernt, sie selbst zu sein oder vielmehr, als hätte sie sich eine Fassade gebaut und fürchtete nun, dass jemand dahinterblicken könnte.
– Ihre Familie versteht sich gut mit den Russen, nicht?
Diese Frage erstaunte sie. Avlan schien nie sonderlich am Weltgeschehen interessiert zu sein. Er würde auch niemals diesen Ort, dieses Dorf verlassen, wenn man ihn nicht regelrecht verjagen würde, dessen war sie sich sicher.
– Ich weiß nicht. Wieso fragst du mich das?
– Nun ja, geht ihr nicht zu den Gasujews fernsehen?
– Manchmal.
– Es hat einen Putsch gegeben, die Russen wollten ihre Vasallen bei uns an die Spitze setzen. Wir haben deren Kampfhubschrauber abgeschossen.
– Wir?
– Ja, die Unseren.
Seine Wortwahl verwunderte sie. Sicherlich verbrachte er viel Zeit im ehemaligen Komsomolclub, dort versammelten sich in letzter Zeit immer mehr junge Männer und besprachen unentwegt irgendwelche »wichtigen Angelegenheiten«, wie Mutter es nannte, was Diskussionen über Politik bedeutete. Wahrscheinlich war auch Avlan dort zugegen und hatte die fremden Worte übernommen, um Eindruck zu schinden.
– Ja, und viele von den Speichelleckern sind festgenommen worden.
Man kam nicht umhin, einen gewissen Stolz in seiner Stimme zu bemerken, sein eifernder Patriotismus erstaunte sie, und das Glühen in seinen Augen, als er das sagte, stufte ihn auf ihrer Sympathieskala auf Anhieb herab.
– Ich muss jetzt wirklich los, Mutter und Asma warten …
Es war ihr zum ersten Mal in seiner Nähe unbehaglich geworden, und sie wollte schnell wieder los. Als wäre er aus einem Halbschlaf erwacht, schüttelte er den Kopf, lachte wieder auf seine einnehmende Art auf und überreichte ihr den Mehlsack. Sie verabschiedete sich mit einem Kopfnicken und trat hinaus. Der Nebel umhüllte sie augenblicklich wie ein warmer Mantel.
Ein paar Schritte weiter wäre sie um ein Haar mit der dicken Gülnaz und ihrem unförmigen Sohn zusammengestoßen. Die Gülnaz war eine richtige Dorfmatrone, und da ihr Ehemann ein paar Rinder hatte und genauso viele Ehefrauen – was ihr wiederum etwas weniger gefiel, auch wenn sie es sich nicht anmerken ließ –, glaubte sie, viele Gemeinschaftsfragen entscheiden und sich überall einmischen zu dürfen. Würde man vom Tratschen zunehmen, müsste sie längst eine Tonne wiegen, hatte Nura einmal zu Asma gesagt und selbst über ihre bildhafte Vorstellung lachen müssen.
Das Kind, das kein richtiges Kind mehr war, aber noch lange nicht erwachsen, hielt Gülnaz’ Hand fest und stampfte mit schweren und trägen Schritten hinter ihr her.
– Ach, Nura, du bist es! Hast du mir einen Schrecken eingejagt!, schrie sie auf, und sogar der dichte Nebel konnte nicht verhindern, dass man das viele Gold in ihrem Mund aufblitzen sah.
– Ja, ich bin es, Tante Gülnaz, Verzeihung! Der Nebel ist heute aber auch besonders dicht …
– Mein Bruder hat gesagt, dass es die Russen sind. Ja, ja, sieh mich nicht so an, man sagt, sie würden jetzt irgendwelche Gase einsetzen, um sich an uns zu rächen und uns, ohne dass wir es bemerken, langsam vergiften …
– Das glaube ich kaum, Tante Gülnaz!
Sie versuchte, mit einem kleinen Schritt nach vorne anzudeuten, dass sie weiterwollte, aber Gülnaz boykottierte ihr Vorhaben. Sie hatte nämlich noch Dinge loszuwerden, und vor allem wollte sie sichergehen, dass sie auch ja nichts verpasst hatte.
– Was macht deine arme Mutter nun?
– Wie meinen Sie das, Tante Gülnaz?
Sie hatte keine Ahnung, worauf die falsche Schlange hinauswollte.
– Nun ja, so alleine mit zwei Mädchen zu Hause, und das in diesen wirren Zeiten …
Alles in ihr zog sich zusammen. Am liebsten hätte sie aufgeschrien, hätte ihr ins Gesicht gespuckt und wäre weitergerannt. So viel Schadenfreude, so viel Gier nach dem Leid der anderen war kaum auszuhalten. Wie konnte man mit so viel Frust überhaupt leben, fragte sie sich und zwang sich zu einem Lächeln.
– Alles in Ordnung, Tante Gülnaz. Machen Sie sich wegen uns keine Gedanken.
– Mach deiner Mutter keine Sorgen, hörst du?, sagte sie mit fast drohendem Unterton und beugte sich ganz nah zu ihr, so dass Nura ihren unangenehmen Atem riechen konnte, ein Geruch nach hartgekochten Eiern und nach etwas Fettigem. – Sie hat bereits genug durchgestanden.
Wie gerne hätte Nura ihr eine Ohrfeige verpasst. Und in dem Moment spürte sie die Abwesenheit von Natalia Iwanowna am schmerzlichsten. Normalerweise wäre sie nach solch einem Vorfall zu ihr gerannt und hätte sich wie ein Donner bei ihr entladen, hätte dort gewütet und alles zum Teufel geschickt, bis sie sich wieder beruhigt und ihre Zuversicht wiedergewonnen hätte. Aber jetzt, ja, jetzt musste sie die Bitterkeit, den Zorn herunterwürgen, sich dabei sogar zu einem Lächeln zwingen.
– Auf Wiedersehen!, murmelte sie nur und setzte ihren Weg durch den Nebel fort, als der Junge, der vorher apathisch neben seiner Mutter gestanden hatte, ihr plötzlich die Zunge rausstreckte und spuckend etwas ausstieß. Zuerst verstand sie nicht, was es war, aber nachdem sie sich etwas entfernt hatte, konnte sie die Laute besser deuten. »Hure« hatte er ihr hinterhergerufen. Gülnaz muss ihm den Mund zugehalten haben, denn er verstummte abrupt und wieder herrschte die alles umfassende Stille.
Sie durfte nicht die Kontrolle verlieren. Sie durfte diesen Hinterwäldlern nicht noch einen Grund mehr liefern, über sie und die Ihren zu tratschen. »Einfach weiteratmen, tief und gleichmäßig weiteratmen«, hörte sie wieder Natalia Iwanowna in ihr Ohr hauchen. Wie furchtbar sie sie doch vermisste! »Atmen und dann den Filter auswechseln!«
Das tat sie, wenn die Welt um sie herum zu fest wurde, zu hart, zu unbehaglich, dann schaltete sie einfach die Realität aus, wechselte sie aus wie einen Farbfilter. Das war gar nicht schwer, nur die Augen schließen und sich in eine andere Realität versetzen, mit jedem ihrer Sinne, mit der allerhöchsten Konzentration, und dann war schon alles anders, sie wurde zu einer anderen, austauschbaren Person, eben zu dem, was sie sich vorzustellen vermochte, was ihre Vorstellungskraft bereit war zuzulassen. Und mit jedem Tag, jedem Monat, jedem Jahr wurde sie darin kühner und waghalsiger. Früher, da wagte sie in ihrer Vorstellung höchstens ein Szenario, in dem sie eine Ärztin war, irgendwo in einer großen Stadt voller schöner Parks und Attraktionen. Einer Stadt, die einer Kirmes glich. Bunt und grell und voller Musik, voller Vergnügen, und sie mittendrin, von der Arbeit eilend, die sinnvoll und wichtig war, am besten in der Chirurgie, am besten da, wo es mindestens um Leben und Tod ging, und selbstverständlich