Die Katze und der General. Nino Haratischwili. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nino Haratischwili
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783627022648
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Tag mit dem Zug nach Lübeck und beschnupperte die Redaktion. Ich kochte Kaffee und durfte kleine Archivarbeiten verrichten, ein paarmal nahm man mich zu einem Interview mit. Und eines Tages verkündete mir der Redakteur, man wolle einen Artikel von mir. Etwas »Persönliches, etwas Emotionales«, etwas, was die Leserherzen berühre. Ich musste nicht lange überlegen. Ich schrieb über die Koncics. Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und konnte mich die ganze Nacht nicht vom Fleck rühren, wie angekettet an die alte Schreibmaschine meiner Mutter. Ich tippte und tippte und hatte das Gefühl, dass ich derjenige war, der damals dagestanden hatte, als die Uniformierten kamen und die Häuser in Brand setzten, dass ich mich eingenässt hatte, ich war derjenige, in dessen Netzhaut sich das lodernde Feuer eingebrannt hatte. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich wie ein Protagonist. Ich war kein Nebendarsteller mehr.

      Die geänderten Namen halfen nichts: Jedem war klar, um wen es sich handeln musste. Mein Artikel erwies sich als so erfolgreich, dass die Zeitung sich gezwungen sah, ein Spendenkonto einzurichten, da die Leser der betroffenen Familie unbedingt helfen wollten. Die gesamte Redaktion, meine Lehrer, die Nachbarn, meine Eltern, sogar mein pubertärer Bruder lobten mich und mein Einfühlungsvermögen. Nur Ivanas Augen drückten pures Entsetzen aus, als ich auf dem Pausenhof auf sie zuging. Entsetzen, sich so in mir getäuscht zu haben. Und ihre Augen füllten sich mit Tränen, während ihre Unterlippe beleidigt nach vorne rutschte und zu zittern anfing.

      – Du bist ein svinja! Ein gemeines Schwein!, schrie sie mich wütend an. Im gleichen Moment tauchte Stanko auf, und seine knallharte Faust traf mich in die Magengrube.

      Kein Brief – und ich schrieb einige –, kein Versuch eines klärenden Gesprächs, keine Bitten halfen; Ivana brach den Kontakt zu mir ab, und ein Jahr später zog die Familie nach Kiel. Durch die Popularität der Koncic-Familie, die der Artikel hervorgerufen hatte, und die wachsende Sympathie in der Gemeinde sahen sich auch die Behörden zum Handeln gezwungen, und so erhielten die Eltern auf dem schnellsten Wege eine Aufenthaltsgenehmigung und eine Arbeitserlaubnis, der Vater bekam in Kiel eine Stelle als Kfz-Mechaniker angeboten. Ich jedoch sah sie nie wieder.

      War es wirklich so falsch, was ich getan habe? War es nicht konsequent, die Geschichte ihres Leids den Menschen zugänglich zu machen, inmitten derer sie wohnten und die nichts über sie wussten? Der Erfolg des Artikels bestärkte mich jedenfalls, mich nach dem Schulabschluss an der Universität Bremen für Politikwissenschaften und Slawistik einzuschreiben, und ich machte auf Empfehlung des mir zugewandten Redakteurs aus Lübeck einige Praktika bei namhaften Zeitungen und Magazinen von Hamburg bis Frankfurt.

      Ich bereiste das ehemalige Jugoslawien, folgte der unsichtbaren Fluchtroute Ivanas, ich berichtete über den omnipräsenten Krieg, der in den Köpfen und Körpern der Menschen weiterging, und jedes Mal, wenn ich darüber schrieb, sah ich alles um mich herum durch ihre Augen. Aber hier war ich mittendrin, ich musste nichts erfinden, was mein Dasein in ein hochkomplexes, unabdingbares, existenzielles Leben verwandelt hätte, ein Filmheld in einem schwarzweißen Epos, und als Soundtrack dazu die wütenden Streicher aus Vivaldis Winter. Ich war freier Mitarbeiter für einige Zeitungen, man bezahlte mich dafür, dass ich durch Krisengebiete wanderte und meinen Rucksack volllud mit den Tragödien und Tränen anderer. Ich hatte meine Existenzberechtigung: Ich war ein Geschichtenerzähler, eine männliche Scheherazade, die leben durfte, solange sie weiter berichtete.

      Die Monate, die ich wegen der Hausarbeiten in meinem friedlichen Studentenwohnheim verbringen musste, erschienen mir elender als die Purgatorien, die ich im ehemaligen Jugoslawien hinter mir gelassen hatte.

      Ich fühlte mich unendlich fremd, sobald ich auf diesen alternativen Partys mit einem ökologisch einwandfrei gebrauten Bier in der Hand herumstand und mich gezwungen sah, an dem Smalltalk teilzunehmen. Es war so beschämend, wenn die Leute wegen einer Trennung nach einer viermonatigen Beziehung zum Therapeuten rannten, um dort noch mehr in ihren eigenen Lebenslügen bekräftigt zu werden. Ich schämte mich für den peacig-linken Kulturclub, wo man über Politik und Kriege diskutierte und von einer Demonstration gegen die Waffenlobby sprach, und ich dabei den Geschmack im Mund nicht loswurde, den dieses Gespräch hinterließ: süßlich zum Erbrechen.

      Ich lernte engagierte Männer kennen, die alle »irgendwas tun« wollten, etwas ändern, etwas machen, etwas in Gang setzen, lernte Frauen kennen, die so unbedingt couragiert sein wollten, so unbedingt anders, ich ging mit ihnen trinken, hörte mir ihre Thesen zur Verbesserung der Welt an, mit einigen von ihnen fing ich kurzweilige Liebschaften an, vermisste bei allen diesen grimmigen, misstrauischen und zugleich scheuen, alles durchdringenden Blick. Am Ende stand stets eine Enttäuschung, ich konnte ihre Verbitterung und ihren höflichen Zorn förmlich auf meiner Haut kribbeln spüren, in den Augenblicken, wo wir uns das Ende der Liaison eingestanden und ich aus der Tür ging, meine Sachen packte und weiterzog.

      1998 kam ich das erste Mal nach Russland, kurz nachdem sich das Land für zahlungsunfähig erklärte, kurz nachdem die »Sieben Reiter« den zunehmend wirren Präsidenten mit seiner übermäßigen Passion für Wodka zur Wiederwahl verholfen hatten, um ihr unglaubliches Vermögen nun auch noch mit dem Besitz der Macht zu krönen.

      Ein faszinierendes, gesetzloses El Dorado: Das sich über elf Zeitzonen erstreckende Urmonster war von einigen wenigen Männern aufgeteilt und verkauft worden. 1994 wurde die gesamte sowjetische Industrie mit gerade mal zwölf Milliarden bewertet – von der Gas- über die Metall- bis zur Ölindustrie –, während einzelne Unternehmen wie die US-Firma Kellogg’s einen weitaus höheren Marktwert besaßen.

      Das Staatsvermögen wurde in Privatisierungen verschleudert und in Obligationen und Vouchers umgewandelt, auf mickrigen Auktionen an jeden verkauft, der ein paar Rubel aufzubringen imstande war. Diese Menschen, die vorher nichts besitzen durften, für die jegliches Kapital Teufelszeug war, verscherbelten diese Vouchers teilweise für eine Wodkaflasche auf dem Schwarzmarkt. Aber die Schlauen und Erfinderischen, jene, die jung genug waren, mit den gravierenden Änderungen Schritt zu halten, wussten, was für Schätze es zu heben gab. Man hatte noch keine Bezeichnung, kein Wort für all die Möglichkeiten, die jene Zeit in sich barg. Man überblickte nicht, was hinter den vielen Türen lag, die sich plötzlich öffneten. Aber einige waren überzeugt, dass es sich lohnte: Der Homo sovieticus wurde durch den Homo oligarchus abgelöst. Das russische Chaos wurde zu meiner Sucht, zu meinem Goldfieber, und der durchaus lebensgefährliche Drang, diese neue Gattung Mensch zu erforschen, ergriff in einem ungeahnten Ausmaß von mir Besitz.

      Unten auf der Straße hatte ich meine Klarheit immer noch nicht wiedergewonnen. Ich aß einen Kebab an der Straßenecke und stieg in die U-Bahn. Es war kalt, und ich wunderte mich, dass ich mir letzte Nacht auf der Parkbank keine Lungenentzündung geholt hatte.

      Mit schweren Schritten absolvierte ich meinen Rundgang auf der Baustelle. Zum Glück musste ich nur das Gelände um das Baumonster herum ablaufen und nicht in den hohlen Bauch des Dinosauriers vordringen. Mit der Taschenlampe leuchtete ich die Baumaschinen an, das Lager mit dem Material, sah nach dem Rechten, und als mir nichts Ungewöhnliches ins Auge sprang – wie nicht anders erwartet, denn die Baustelle war durch mehrere Kameras gesichert und meine Stelle eher eine Formalität, da es vor einem Jahr einen Einbruch durch eine Jugendbande gegeben hatte, die auf dem Gelände getrunken, randaliert und dann wild herumgetanzt hatte, und man hatte einen echten Wachmann zur Abschreckung eingestellt –, zog ich mich in mein enges, mit einem kleinen Heizlüfter notdürftig warmgehaltenes Kabuff zurück, in dem ich mich an guten Tagen wie ein Embryo im Uterus fühlte.

      Den Job hatte ich seit sechs Monaten. Ich fühlte mich hier wohl, ich war der einsame König über ein einsames und nächtliches Königreich, ich regierte über Kräne und Betonmischer, über Metall und Zement, ich war der Herr über das monströse Skelett eines künftigen Hotels, das eines von vielen gesichtslosen, hässlichen, anonymen Großstadtdinosauriern werden würde. Vielleicht hing ich sogar auch etwas an diesem hässlichen Monstrum, weil es das Einzige war, wofür ich mich verantwortlich fühlte.

      Ich las einen seichten Krimi, Anspruchsvolleres mied ich seit geraumer Zeit, trank den in einer Colaflasche heimlich reingeschmuggelten Wein, aber nichts half, ich fand nicht in die Gegenwart zurück. Ich hatte weiter Schapiros Worte im Ohr, erneut tauchte das Bild von ihr vor meinem inneren Auge auf, von ihr und ihrem Vater vor dem Gemälde. Konnte man einer