Halt. Michael Donkor. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Donkor
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783960541998
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Sie ist mein Ein und Alles.« Nana nahm ihre Ohrringe ab und schüttelte sie wie Würfel. »Sie ist wunderschön und das belesenste Mädchen im ganzen Vereinigten Königreich. Ewurade! Sie heimst eine Auszeichnung nach der anderen ein und spricht über so viele schlaue Dinge, von denen ich nicht die geringste Ahnung habe. Einmal stand sie sogar in der South London Gazette, weil sie so gescheit ist!« Nana schüttelte fassungslos den Kopf. »Und wenn sie sich mal eine Pause von ihren Hausaufgaben gönnt oder von ihrer Malerei, kaufen wir zusammen bei H&M ein und führen richtig gute Gespräche. Ihr Vater ist so stolz auf sie, dass er sich gar nicht grämt, keinen Sohn zu haben, und sich auch nie darüber beschwert, was ihre Privatschule ihn für horrende Summen kostet.«

      Belinda nahm die Serviette und faltete sie zu einem Viereck. »Wie schön«, sagte sie. »Wie schön für Sie.«

      »War es mal.« Nana seufzte und stellte ihr Bier ab. »Vergangenheit. Wir müssen die Vergangenheitsform verwenden, weil es damit jetzt aus und vorbei ist, verstehst du? So schnell, wie sich eine Rauchwolke auflöst, auf einmal ist sie wie besessen. Redet nicht mehr. Ist mürrisch. Nur noch einsilbig, zweisilbig, wenn’s nicht anders geht. Als laste die ganze Welt auf ihren Schultern. Ich bemüh mich ja, versuche sie zu verstehen, stell ihr Fragen, um herauszufinden, was mit ihr los ist, aber ich bekomme keine Antwort. Nur freche Ungezogenheit.«

      »Das tut mir sehr leid, Madam.«

      Nana zischte: »Und sämtliche Schwachköpfe dieser Welt wollen mir weismachen, es wären ihre Hormone, Hormone, Hormone, dahinter steckt aber mehr. Ich spüre das. Als Mutter weiß ich das. Und was ihr wehtut, tut auch mir weh.« Aunty tätschelte Nana ermutigend die Schulter, wie Belinda es oft mit Mary tat.

      Und so setzte Nana zu ihren Erklärungen an, trank noch ein bisschen und fuchtelte mit den Armen, sobald sich ihr ein Moskito näherte. Im Lauf ihrer Ansprache sagte sie ständig »wenn«, und das sehr bedächtig, als hätte Belinda eine Wahl. Nana redete endlos davon, dass ihre Tochter den Beistand einer guten, besonnenen Freundin wie Belinda bräuchte. Sie lächelte – ihr Gebiss war so makel- wie lückenlos – und zählte die Möglichkeiten auf, die Belinda offenstünden, wenn sie nach London käme und bei ihnen wohnte, sie sagte, Belinda könne sich in einer wunderbaren Londoner Schule weiterbilden und ihre Zukunft sichern; sie sagte, sie und Dr. Otuo würden Mutter jeden Monat mit einem kleinen Geldbetrag unterstützen, wie Aunty und Uncle es bisher taten, weil sie wussten, dass Mutter mit ihren Schichten in der chop bar nicht genug verdiente. Die Erwähnung von Mutters Restaurantjob, Nanas schweres Parfüm, die Vorstellung, wieder umziehen zu müssen – all das löste bei Belinda ein Gefühl von Schwerelosigkeit und Übelkeit aus, als wäre ihre Brust voll seltsamer, schwebender Blasen.

      Zwischendurch wandte Nana sich Aunty zu. Die beiden Frauen hielten sich an den Händen, ihre Ringe stießen klirrend aufeinander, wieder klapperten ihre Armreifen. Aunty atmete tief durch. »Es schmerzt mich unendlich und es bricht mir das Herz, dich ziehen zu lassen, Belinda. So früh schon. Als wären es nur wenige Tage gewesen, dabei –«

      »Sechs Monate und ein paar Wochen.«

      »Wie bitte?«

      »Mary und ich sind seit sechs Monaten und ungefähr zwei Wochen hier.«

      »Genau«, sagte Aunty und berührte die papierne Haut an ihrem Hals. »Und das bricht mir das Herz. Meine gute Freundin meint aber, sie braucht dich und Amma braucht dich. Und so lasse ich dich gehen, weil ich ihr treu verbunden bin und weil ich ihr helfen möchte.«

      Belinda fuhr mit dem Finger über das silberne Muster am Serviettenrand. Die Zikaden sangen ihre lange, eintönige Melodie. Sie hatte so viele Fragen, aber nur eine kam ihr über die Lippen: »Sie reden nur von mir. Was ist mit Mary? Bleibt sie hier?«

      »Ja«, sagte Nana, ohne ihr in die Augen zu sehen. »Sie bleibt hier.«

      »Oh. Oh.« Belinda konzentrierte sich wieder auf die Serviette, das unruhige Muster wurde ihr jedoch bald zu viel.

      Nana und Aunty taten so, als würde alles ganz einfach werden. Belinda befürchtete das Gegenteil. Trotzdem nickte sie und ging dann auf die Knie, um ihnen zu danken, schließlich wusste sie, welche Rolle sie innehatte, welcher Platz ihr zukam, sie begriff, was das Richtige war. Sie verneigte sich zu ihren Füßen und pries mit leisen Sätzen ihre Großmut, denn für Belinda war die Gelegenheit, noch mehr Abstand zu dem zu gewinnen, was sie im Dorf zurückgelassen hatte, sogar ein größerer Segen, als Nana oder Aunty ahnen konnten.

      Man entschied, dass Belinda mit Mary einen Ausflug unternehmen würde, um ihr die Neuigkeit zu vermitteln. Ihr die bittere Pille ein wenig zu versüßen. Man erklärte, dass ein Besuch im Zoo sich dafür am besten eigne. Man befand diesen Plan für ausgezeichnet. Also erwiderte Belinda mit einer Stimme, die aus der Ferne zu kommen schien und anders klang als gewohnt, dass es Mary im Zoo gefallen würde, vor allem die Affen, wegen ihrer beweglichen und geschickten Schwänze, die Mary so liebte.

      Nun aber, da Belinda und Mary unweit des Schlangengeheges neben einem Trinkbrunnen standen und warteten, während die Hostess einen Schluck trank, schien Mary sich weitaus mehr für Strauße zu interessieren als für Affen.

      »Wo verstecken die sich denn?«, fragte sie und zeigte auf eine körnige Abbildung dieser Vögel in der Broschüre.

      Die Hostess wischte sich über den Mund und bewunderte das üppige Grün, das vor ihnen lag. Unter ihrem Arm klemmte ein hölzerner Stock. Auch Belinda ließ die Aussicht auf sich wirken. Mary stöhnte und stürmte mit der Minikamera davon, die Aunty ihnen geliehen hatte. Der Zoo war schön, aus unzähligen dunklen Sträuchern schossen Orchideen hervor wie beflissene Hände und reicherten die Luft mit ihrem süßen Duft an. Überall standen Cashewbäume, beladen mit ledrigen Früchten. Selbst die Eidechsen wirkten hier anders, ihre Streifen farbintensiver. Bäche zogen sich durch die Landschaft, in denen unbekannte Fische aufblitzten. Von Zeit zu Zeit drang aus den Baumwipfeln viel Geschrei.

      »Die Strauße?«, fragte Mary beharrlich.

      »Wenn du dir den Aushang in Erinnerung rufst, der dir am Eingang begegnet ist, wird du dich entsinnen, dass wir diese Strauße zu unserem Bedauern nicht mehr zeigen können. Infolge von Budgetkürzungen wurden sie unserer Obhut entzogen. Ich dürfte dir das eigentlich gar nicht verraten. Ich soll nämlich verkünden, dass diese Strauße dem Zoo von Washington als Leihgabe überlassen wurden, in den Vereinigten Staaten von Amerika, das verleiht uns Prestige und dich macht es stolz, dass der Zoo-oh deines Landes seine Tiere dem Westen zur Verfügung stellt.« Die Hostess strich sich ein paar verschwitzte Strähnen aus den Augen. »Stimmt aber nicht. Tut mir leid. Wir haben unsere Strauße verkauft. Ja, verkauft. Denn wie soll man so große majestätische Vögel in einem Land wie dem unsren halten, wenn hier so viele Menschen immer noch nicht lesen und schreiben können?«

      »Kro-ko-dile! Da!« Mary zeigte auf die Beschriftung eines ausgeblichenen Schilds. Belindas Arm schwang hin und her, als Mary sich von ihr losmachte und einen Pfad entlangrannte.

      »Vorsicht! Er kommt aus dem Norden – und wir haben ihn seit rund vier Tagen nicht mehr gefüttert – die Budgetkürzungen!« Die Hostess eilte Mary hinterher.

      Belinda folgte, bahnte sich einen Weg durch das Blattwerk und biss an ihren Fingernägeln, spuckte den roten Lack aus, der an ihrer Zunge haften blieb. Sie wollte einen passenden Ort, etwas versteckt, einen Ort, an dem sie unter sich wären, für den Augenblick der Wahrheit. Aber sämtliche Plätze, an denen der Pfad vorbeiführte, waren von Besuchern besetzt, die mit sich selbst beschäftigt waren. Ein indisches Paar mit Baseballkappen im Partnerlook, beide mit Fernglas um den Hals, saß auf einer Bank. Bei den Stachelschweinen öffnete ein Familienvater seine Aktentasche vor den Augen von drei erwartungsvollen Kindern. Die drei Krankenschwestern vom Eingang hakten sich voneinander los, eine blieb stehen, um sich die Hüfte zu reiben. Und als wäre das alles nicht schon schlimm genug, musste Belinda, weil ihr Kleid keine Taschen hatte, die restlichen Cedis in ihren BH stopfen, nachdem sie Mary einen großzügigen Anteil des Gelds, das für diesen Tag bestimmt war, überlassen hatte, sodass ihre Brust monströs aussah und unangenehm drückte. Die Stöckelschuhe, die Belindas Füße laut Aunty und Nana »feminin« erscheinen ließen, zwängten ihre Zehen ein und schmerzten sogar mehr als Magenkrämpfe.

      »Ich