Die Verschwundenen. Wolfgang Popp. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wolfgang Popp
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783903005662
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hin an diesem ersten Abend in Sorrent und schlief so tief wie schon lange nicht mehr. Beim Aufwachen am nächsten Morgen wusste ich auch gleich, wo ich mich befand. Ich trat ans Fenster und sah hinaus aufs Meer und hinüber zu dem Felsen, von dem aus die Sirenen der Legende nach die Menschen mit ihrem Gesang in Wahnsinn und Tod getrieben hatten. Ich machte noch zwei, drei kurze Notizen die ruhige Lage des Hotels und den schönen Ausblick aus den Zimmern betreffend, dann fiel mir Alpbacher wieder ein und ich wurde ungeduldig, sodass ich gleich nach einem hastigen Frühstück die wenigen Schritte zur Piazza Torquato Tasso hinüberging.

      Denke ich an meine Schulzeit, dann fällt mir zuallererst immer die Lateinstunde ein, in der Alpbacher mit einem verschmitzten Grinsen das Klassenzimmer betreten hatte. Heute, meine Damen und Herren, so begann Alpbacher, der uns als einziger Lehrer ausschließlich mit Sie ansprach, damals voller Genugtuung, und ich hatte seine Stimme auf der Piazza Torquato Tasso noch ganz genau im Ohr, so wie ich sie auch heute wieder ganz genau im Ohr habe, heute, meinte Alpbacher also, geht es um Epikur, und das ist so ganz das Meine. Dabei hatte er spitzbübisch geschmunzelt, so als wäre Epikur kein toter Philosoph, sondern ein alter Freund, mit dem er den gestrigen Abend verbracht und dabei einiges getrunken hatte.

      Bei Anna war mir von Anfang an aufgefallen, dass sie beim Sprechen überhaupt nicht gestikulierte und auch ihr Gesicht kaum mimische Regungen erkennen ließ, sodass ich häufig das Gefühl hatte, sie merke gar nicht, wenn sie etwas sagte. Ihre Worte schienen aus dem Nirgendwo zu kommen, was ihnen aber eine seltsame Gültigkeit verlieh. Dabei war ihre Stimme ganz dünn und erinnerte mich nicht nur einmal an das Flüstern aus der Zeit gefallener Geister in Horrorfilmen.

      Von halb zehn Uhr vormittags an saß ich auf meinem Platz im Gastgarten der Trattoria mitten auf der Piazza Torquato Tasso. Ein mitgenommener Hotelprospekt lag aufgeschlagen vor mir, ich las aber nicht einen einzigen Absatz daraus. Stattdessen ließ ich den Blick die ganze Zeit über wandern, vom einen Ende der Piazza zum anderen, immer bereit aufzuspringen, sobald ich den in der Sonne schneeweiß glänzenden Panamahut Alpbachers entdeckte. Es war schließlich später Nachmittag, als Alpbacher tatsächlich, genauso wie gestern, mit dem Rad auf mich zukam. Ihn durch Rufen und Winken auf mich aufmerksam zu machen, kam mir unpassend vor, hatte Alpbacher doch immer seine Abneigung gegen alles Schrille und Schnelle bekundet und als Beispielwort für die a-Deklination mit Vorliebe die Dezenz herangezogen. Decentia, decentiae, decentiae, decentiam, decentia, decentiae, decentiarum, decentiis, decentias, decentiis, spulte es die Wortfolge nicht nur augenblicklich in meiner Erinnerung ab, die Melodie blieb mir auch wie ein Ohrwurm im Kopf, während ich aufstand von meinem Tisch und einen Schritt machte hin zum Straßenrand, sodass Alpbacher unmittelbar an mir vorbeifahren musste. Zaghaft hob ich die Hand, ohne große Hoffnung allerdings, dass er mich erkennen würde. Er erwiderte jedoch meinen Blick und bremste sein Fahrrad ab, sodass es unmittelbar vor mir ausrollte.

      Lechner, sagte er mit ruhiger Stimme und einem Lächeln, eine Überraschung.

      Ich war mir nicht sicher, ob er sich freute, mich zu sehen, jedenfalls schien ihn mein plötzliches Auftauchen nicht zu stören, auch wenn er mir nicht die Hand reichte, sondern sie die ganze Zeit über auf der Lenkstange seines Fahrrads behielt.

      Ein Zufall, Lechner, oder haben Sie eine Frage?, so Alpbacher lächelnd, und obwohl ich auf die vierzig zuging und er Mitte sechzig sein musste, fühlte ich mich in dem Moment wieder wie bei einer Prüfung in der Schule, nervös, nicht etwa, weil ich Angst vor einer schlechten Note hatte, sondern davor, Alpbacher zu enttäuschen.

      Alpbacher konnte nicht umhin, in seinen Stunden regelmäßig die Gegenwart und vor allem den von ihm zutiefst verabscheuten Zeitgeist zu kommentieren. Einmal war es eine Fernsehshow, auf die er am Vorabend zufällig gestoßen war, die ihn zu einer Tirade veranlasste. Am sporadischen Blödsein, sagte Alpbacher damals, ist ja nichts auszusetzen. Bei einem blöden oder absurden Gedanken handelt es sich ja häufig um eine ganz willkommene Abwechslung, und dessen Herstellung kostet den Geist wahrscheinlich genauso viel Energie wie das Hervorbringen eines ernsten Gedankens. Leider werden aber blöde Gedanken kaum mehr vereinzelt und für den Eigengebrauch erdacht, sondern rauschen zu Blödheitslawinen geballt über die Köpfe der Massen hinweg. Aus der ursprünglich versteckten Freude am privaten Blödsein ist deshalb ein lautstarkes und geistloses Spektakel geworden. Es scheint der Fluch der Gegenwart zu sein, so Alpbacher damals abschließend, bevor er zum Unterrichtsstoff überwechselte, dass der Mensch nicht mehr allein blöd sein kann.

      Ich folgte Alpbacher in eine enge Gasse zu einem unscheinbaren Haus mit grauer Fassade und kleinen Fenstern. Nur eine neben dem Haustor aufgehängte Speisekarte und ein viel zu kleines Schild verrieten, dass sich in dem Gebäude ein kleines Ristorante befand. Alpbacher öffnete das schwere Holztor und ging voran in einen Innenhof, in dem es angenehm kühl war. Die an zwei Seiten fensterlosen Mauern waren fast völlig von Efeu überwuchert, die Tische und Stühle einfache Klappmöbel aus Gusseisen und Holz. Wir setzten uns und Alpbacher ließ eine Karaffe Rotwein bringen.

      Auch jetzt aus der Nähe sah er völlig unverändert aus, so als wäre er seit seinem Weggang nicht gealtert. Als ich ihn darauf ansprach, schmunzelte er und nannte dieses Phänomen, mit einem ironischen Unterton in der Stimme, seine Schockstarre. Dabei, sagte Alpbacher, hatte ich mich seit meiner Jugend auf Alterserscheinungen wie graue Haare, Gesichtsfalten oder Altersflecken gefreut, die mir immer wie eine von der Zeit verliehene Auszeichnung, ähnlich der Patina auf Kunstgegenständen, erschienen waren.

      Er lächelte spitzbübisch und strich sich dabei genau wie zu Schulzeiten über seinen Schnurrbart, eine Geste, die mich sentimental machte wie schon lange nichts mehr.

      Und Lechner, fragte Alpbacher dann, haben Sie noch Kontakt zu Leuten aus Ihrer Klasse? Haben Sie unseren Vorzeige-Intellektuellen Felder einmal wiedergesehen oder seinen Lakaien, der ihm immer ehrerbietig hinterhergehechelt ist?

      Sie meinen Schulz?

      Richtig, Schulz, sagte Alpbacher, so hat er geheißen, Felders ewiger Schatten.

      Auf der Universität habe ich sie ein paar Mal getroffen. Sie haben gemeinsam studiert. Geschichte, glaube ich. Das ist aber lange her.

      Und wissen Sie, wie es Anna geht?, fragte mich Alpbacher wie beiläufig, während er mir aus der Rotweinkaraffe einschenkte, den Blick dabei auf mein Glas gerichtet.

      Nein, sagte ich, ich habe seit der Matura nichts mehr von ihr gehört.

      In diesem Moment kam die alte Besitzerin des Ristorante, und wir bestellten unser Essen. Alpbacher erwähnte Anna an dem Abend nicht mehr, und er ging auch nicht weiter darauf ein, was genau denn seine Schockstarre damals ausgelöst hatte. Stattdessen redete er über Epikur und die Freuden einer guten Mahlzeit.

      Auf dem Weg zurück ins Hotel dachte ich, dass Alpbacher in seinem Wissen von der Antike lebte wie andere Menschen in ihren Wohnungen und Straßen. Gerne stellte ich mir vor, dass er fiktive Gespräche führte mit seinem Epikur und den anderen von ihm verehrten antiken Philosophen. Ich hatte das Bild genau vor mir, wie er in einer winzigen Mansarde auf seinem Bett saß und in gepflegtestem Altgriechisch und stilvollstem Latein in den leeren Raum hineinflüsterte. Ich hätte viel dafür gegeben, dabei mithören zu können, denn ich war fest überzeugt, dass hier unwiederbringlich etwas verloren ging, wofür es anderswo nicht annähernd Ersatz gab, ja mir schien sogar, dass sich in diesen fiktiven Gesprächen Lücken schlossen und die Welt vollständig wurde wie nirgendwo sonst.

      Alpbacher arbeitete, wie er mir in dem Ristorante erzählte, seit seinem Abschied aus Wien als Historiker im wissenschaftlichen Team von Pompeji. Er habe sich damit einen alten Traum erfüllt, denn die unter der Asche versunkene Stadt habe ihn seit jeher fasziniert. Ich erinnerte mich, dass er im Unterricht jeden Herbst von seinem Sommeraufenthalt in Pompeji geschwärmt und dabei vor allem eine Villa mit einem außergewöhnlichen Fresko erwähnt hatte. Auf dem sei ein Mädchen dargestellt mit einem Blick, wie er ihn noch nirgendwo sonst gesehen habe, erzählte Alpbacher damals. Entrückt und gleichzeitig voller Weisheit, als würde sie Dinge sehen, die außer ihr niemand sonst sehen konnte. Diese Malerei erwähnte Alpbacher jetzt wieder, gut zwanzig Jahre später in dem Ristorante in Sorrent. Und dann meinte er, er würde sie mir gerne zeigen. Da er das Ausgrabungsgelände auch außerhalb der Öffnungszeiten betreten konnte, bot er mir an, früh am nächsten