Am Opernring aus dem Taxi raus, die Leute sind tatsächlich gerade zurück auf ihre Plätze, wir einfach hoch in den obersten Rang, niemand hat eine Eintrittskarte verlangt oder hat uns sonst irgendwie daran hindern wollen, die Walküre zu sehen.
Die Walküre ist damals für mich der Hammer gewesen. Überhaupt Wagner. Besser als jeder Rausch.
Ich habe so viele Jahre nicht an David gedacht, und jetzt fällt mir eins nach dem anderen wieder ein: David hatte gerade die Matura gemacht und war für ein paar Tage nach Wien gekommen, hat bei seinem Cousin am Nestroyplatz übernachtet, das war damals noch eine wilde Gegend, kein ATV gegenüber, keine chicen Lokale, kein Ansari, kein Mochi, dort hat damals noch niemand wohnen wollen.
Nach der Oper etwas essen, im ersten Bezirk, gleich bei der Synagoge, das Lokal gibt es heute nicht mehr, geredet: Ich wollte damals ein bekannter Pianist werden, berühmt wie Vladimir Horowitz. David wollte Verhaltensforscher werden, berühmt wie Konrad Lorenz.
Es war fast Mitternacht, als wir am Donaukanal entlanggegangen sind.
Der Vollmond hat sich im Wasser gespiegelt. Das Wasser hat gestunken. Nicht nur an diesem Tag, es hat immer gestunken, egal zu welcher Jahreszeit. Damals wurde noch alles ungefiltert in den Kanal geleitet. Ich muss nur daran denken, dann habe ich den Geruch schon in der Nase. Und neben mir dieser duftende Maturant, siebzehn, achtzehn Jahre alt …
Schritte, Schweigen, dann: Ich möchte dir gerne meine Wohnung zeigen. Was Besseres fiel mir nicht ein.
Und er: Okay.
Echt?
Falsch.
Was?
Scherz.
Im Wohnzimmer stand ein Bösendorfer.
Eine Weile habe ich improvisiert, immer wilder in die Tasten gegriffen, schließlich bin ich bei Rachmaninow gelandet, bis mein Nachbar gegen die Wand gehämmert hat. David und ich haben gelacht und sind aufs Sofa übersiedelt. Wieder geredet: David war in der Mansarde eines Einfamilienhauses aufgewachsen, hat das Zimmer mit seinem älteren Bruder geteilt, ihre Betten standen unter der Dachschräge, über ihm ein Poster von Franz Klammer, Abfahrts-Olympiasieger, Innsbruck 1976, in einem hautengen gelben Rennanzug. Für den Bruder war das einfach nur der Goldmedaillengewinner. 1976 war David neun und schaute ausschließlich auf die Muskeln unter der zweiten Haut. Und ich habe erzählt, wie ich drei Wochen zuvor Besuch von Bea hatte, einer Freundin von früher, aus Baden bei Wien, wo ich groß geworden war. Sie hat damals in Strasbourg gelebt und hat einen Typen mitgebracht, Philippe, und nachts habe ich plötzlich gespürt, wie jemand in mein Bett kriecht. Erst habe ich gedacht, es ist Bea, aber es war nicht Bea, es war Philippe, er hat mich in den Arm genommen.
Willst du es nicht?, hat mich Philippe gefragt.
Doch, habe ich geflüstert, ich will es auch.
Dann musst du auch atmen, sonst erstickst du.
Eine Weile ist es vollkommen still gewesen … zwischen David und mir. Wir haben uns nicht gerührt, aber mein Herz hat wie wild geschlagen.
Es ist fast vier Uhr früh. Wollen wir uns nicht hinlegen? Dann können wir noch besser reden.
David hat den Kopf geschüttelt.
Während er seine Schuhe angezogen hat, habe ich gewusst, dass er es später bereuen würde.
Ich hab mich aufs Bett gelegt, mir vorgestellt, wie er am Donaukanal entlangmarschiert, unter den Brücken durch, die den zweiten Bezirk mit dem ersten verbinden. Vermutlich hat er schon am Weg zu seinem Cousin diesen Brief im Kopf entworfen.
Ich habe mir dann noch einen runtergeholt und dabei abwechselnd an Philippe und an David gedacht, an schulterlange Haare, einen knochigen Körper, weiße Haut, einen samtigen Schwanz, der zu meiner Überraschung ohne jeden Schmerz in mich eingedrungen ist.
Eine Woche später ist dieser Brief an die Adresse meiner Eltern gekommen. Darin hat David geschrieben, wie sehr er es bereut hat, nicht geblieben zu sein, dass ihm erst später klar geworden ist, dass er auch will, was Philippe gewollt hatte, ohne in dem Brief zu sagen, was das war. Er schrieb, dass ich ihm schreiben soll, dass er mich wiedersehen möchte, sobald er nach Wien kommen würde, um zu studieren.
Ich verstehe immer noch nicht, warum der Brief an meine Eltern und nicht an meine Wiener Adresse kam. Kann sein, er hat sie sich nicht gemerkt … aber wenn er die andere Adresse herausgefunden hat, hätte er auch meine … und so weiter, keine Ahnung. Ist ja auch egal. Ist über dreißig Jahre her.
Meine Mutter hat den Brief aufgemacht, mit der Begründung, es könnte ja was Wichtiges sein. Sie hat mich angerufen. Hallo, Matthias. Ihre Stimme klang merkwürdig. Ich war gewarnt, ohne zu ahnen, worauf es hinauslaufen würde.
Hallo, bist du noch da?
Und dann hat meine Mutter mit leiser, ängstlicher, ungläubiger Stimme gefragt: Wer ist dieser David?
SANDRA
David? David hat auf der Treppe zur Galerie des Audimax gesessen, nicht in diesem Traum, den ich vor drei Tagen gehabt habe, in Wirklichkeit, vor, na ja, ich weiß nicht genau wie vielen Jahren. Fünfundzwanzig? Ich habe nie von ihm geträumt, all die Jahre nicht. Und vor drei Tagen plötzlich. Komisch, oder? Und als die Türen aufgegangen und alle in den Saal zur Einführung in die Zoologie geströmt sind, ist David einfach sitzen geblieben, und ich habe mir aus irgendeiner Laune heraus vorgenommen: Ich gehe erst, wenn er geht, er, der eine Stufe tiefer sitzt, dessen Rücken ich sehe, dessen breiten Hinterkopf, das Gesicht nicht. Und da er nicht aufgestanden ist, sind wir noch dagesessen, nachdem die Türen wieder zugegangen waren. Er und ich. Also damals, nicht in dem Traum vor drei Tagen, das war in Wirklichkeit. Seine Arme waren um seine Knie geschlungen, mit dem Oberkörper vor und zurück, vor und zurück, und ich zu ihm: Hör auf damit! Und er hat augenblicklich damit aufgehört, und ich: Warum schwänzt du die Vorlesung? Und er: Ich glaube da nicht mehr dran.
Woran glaubst du nicht mehr? Ein neuer Konrad Lorenz zu werden. Und David hat gelacht, als wäre es überhaupt kein Problem, etwas, das man einmal unbedingt wollte, auf einmal nicht mehr zu wollen.
Auch für mich war Zoologie nicht die Zukunft. Ich wollte Journalistin werden. Ich wollte schreiben. Reiseberichte.
Hast du mal ein Gedicht geschrieben?
Nein.
Da hat er sich zum ersten Mal nach mir umgedreht – was er da gesehen hat, was er in diesem Moment gedacht hat? Ich habe es nie erfahren. Eine Weile hat er mich lächelnd gemustert, dann seine hohe Stirn in Falten gelegt, den kleinen Mund ein wenig schief verzogen und gesagt: Was ich an dir mag, ist das Geheime / jedes Wort zu viel ist schon Gefahr / denn so schnell verfällt ins Allgemeine / was zuvor so ganz besonders war.
Und ich: Ist es deine Stimme / sind es deine Hände / ach – dein ganzes Wesen fesselt mich / um dich zu beschreiben, bräucht es Bände … das ist von Erich Fried.
Nein, von Konstantin Wecker, hat David gesagt.
Stimmt. Scheiße! Der Punkt ging an ihn.
Am nächsten Mittwoch war David wieder dagewesen, ist wieder auf der Treppe sitzen geblieben, statt in die Vorlesung zu gehen. Am selben Abend sind wir zusammen zu einer Lesung von Erich Fried.
Der erste Kuss war gierig, total misslungen, es waren Bisse, unsere Zähne sind gegeneinandergeschlagen, wir haben uns ineinander verkrallt, es war ein Kampf, ein Krampf, ich habe etwas Warmes geschmeckt, einer von uns hat geblutet.
In diesem Traum vor drei Tagen hatten wir ein gemeinsames Kind, das jetzt Mitte zwanzig sein müsste, aber es war erst ein paar Wochen alt, so, als wäre es all die Jahre in meinem Bauch herangewachsen, das kann doch nicht sein, fünfundzwanzig Jahre lang schwanger, habe ich im Traum gedacht und bin deswegen fast verrückt geworden.
Ich