Zu Keynes passt das nicht. Björn Frank. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Björn Frank
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9783946334569
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hatte, der Ermordung beschuldigt, allerdings wurde er nie gefasst.

      Hier endet die Geschichte – oder sie endet nicht. Der Mann, der wenig später mit einigen Papieren Cantillons in der holländischen Kolonie Surinam auftauchte und sich Chevalier de Louvigny nannte, kann Cantillons Mörder gewesen sein. Dass in der Nacht seines Todes Frau und Tochter nicht in London, sondern in Paris waren, kann Zufall gewesen sein, ebenso wie die Tatsache, dass er vor seinem Tod einen ungewöhnlich hohen Betrag in bar von seinem Konto abgehoben hatte. Und es kann sein, dass sein Buch nach dem englischen Manuskript ins Französische übersetzt wurde, dass das englische Original dann verlorenging und dass auch die französische Version für rund zwanzig Jahre unveröffentlicht blieb, bis jemand auf die Idee kam, sie zu drucken. Es kann aber auch sein, dass sich hinter dem Chevalier in Wahrheit Cantillon selbst verbarg und dass Baron Friedrich Melchior von Grimm recht hatte, als er 1755 an Denis Diderot schrieb:

      Seit einem Monat haben wir ein neues Werk über den Handel, betitelt ›Essai sur la nature du commerce en général, traduit de l’anglois‹ (…). Das Buch ist nicht aus dem Englischen übersetzt, wie dies zweifellos mit Absicht im Titel angegeben wird; es ist ein ursprünglich französisch von einem Engländer, M. de Cantillon, verfaßtes Werk, einem Mann von Ansehen, der seine Tage in der Languedoc beschloß, wohin er sich zurückgezogen und wo er viele Jahre gelebt hatte.

      In einem späteren Brief allerdings widerruft Grimm diese Darstellung und schließt sich der offiziellen Version an. Wir werden nie sicher wissen, wie es sich abgespielt hat. Doch wenn Cantillon seine Ermordung vorgetäuscht hat, dann ist er mit einem Schlag alle Kläger und Gerichte losgeworden, dann war das ein Geniestreich – nur eben keiner, von dem man wissen durfte, keiner, für den er sich hätte bewundern lassen dürfen. Wie aber sollte er zurückgezogen leben und gleichzeitig den Namen Richard Cantillon in Glanz erstrahlen lassen? Das mit dem Buch, wohl dem bedeutendsten ökonomischen Werk vor Adam Smith, hat dann ja ganz gut geklappt.

       Bentham: Keine schöne Leiche (aber nützlich)

       JEREMY BENTHAM (1748–1832)

      Dass die sterblichen Überreste von Jeremy Bentham, auf einem Stuhl sitzend, gut anderthalb Jahrhunderte nach seinem Tod immer noch jährlich an den Sitzungen des Senats des University College of London teilnehmen und dass im Protokoll steht: »Jeremy Bentham, present but not voting«, ist eine Erfindung. Es gibt diesen Protokolleintrag nicht, und verlässlich dokumentiert ist nur, dass Bentham 2013 teilnahm. Warum etwas Erfundenes hinzugefügt wurde, ist schwer zu verstehen. Sein Leben und Nachleben waren auch ohne Ausschmückungen romanhaft genug.

      Es war bloß keiner jener abgeschmackten, vorhersehbaren Romane, in denen Kindheitserlebnisse alles, was später kommt, in die Spur setzen. 1760, im zarten Alter von zwölf Jahren, kam Jeremy Bentham als eine Art Wunderkind an das Queen’s College in Oxford und wurde in eine Stube mit Blick auf den Friedhof einquartiert. Albträume und Angst vor Gespenstern verfolgten ihn fast sein Leben lang. Was wurde aus dem traumatisierten Kind, das mit 16 Jahren das College als Bachelor of Arts verließ und dann noch Rechtswissenschaften studierte? Wurde er zum Spiritisten, der mit allerlei Hokuspokus die Geister zu beschwören versuchte? Keineswegs. Sein Verstand übernahm das Kommando in der Auseinandersetzung mit dem Tod. Dass er sich vor Gespenstern fürchtete, ohne an Gespenster zu glauben, fand er mit nüchternem Blick interessant. Und 1769, mit 21 gerade volljährig und als Anwalt zugelassen, wagte er etwas Unglaubliches. Er setzte ein Testament auf und vermachte seinen Körper der medizinischen Ausbildung und Forschung. Das war vollkommen neu in einer Zeit, als die einzigen Leichen, an die man legal kommen konnte, um zu forschen und angehende Ärzte üben zu lassen, die von hingerichteten Verbrechern waren. Allerdings musste die Wissenschaft noch lange auf Benthams Leiche warten.

      Benthams Familie war so vermögend, dass er kaum zu praktizieren brauchte, stattdessen machte er sich bald als Autor juristischer und rechtsphilosophischer Werke einen Namen. Dabei kannten seine Zeitgenossen nur einen Bruchteil dessen, was er schrieb. Bentham überließ seine Manuskripte häufig zu früh ihrem Schicksal, vieles wirkt unrund und ungeordnet. Manchmal mag er beim Schreiben an die britische Tagespolitik gedacht haben, nicht an die Nachwelt; manchmal mag es an dem Tempo gelegen haben, mit dem er sich immer neuen Ideen zuwandte und halbfertige Bücher hinter sich ließ wie Don Juan Frauen mit gebrochenem Herzen. Die meisten seiner ökonomischen Werke erschienen erst über hundert Jahre nach seinem Tod in einer dreibändigen Ausgabe.

      Es hat immerhin dafür gereicht, unangefochten als Gründer einer philosophischen Schule zu gelten – des Utilitarismus –, aber ausgerechnet sein bekanntester Satz ist weder von ihm (sondern geht auf den italienischen Rechtsphilosophen Cesare Beccaria zurück), noch handelt es sich um eine brauchbare Maxime. »Das größte Glück der größten Zahl« sei der Maßstab guten Regierens. Ja, was denn nun? Sollen möglichst viele Leute ein bisschen glücklich sein? Oder dürfen ein paar Menschen unglücklich sein, wenn dafür zum Ausgleich viele sehr glücklich sind? Ist »das größte Glück der größten Zahl« nicht so sinnvoll wie ein Sportwettbewerb, bei dem man gleichzeitig »so hoch und so weit wie möglich« springen soll? Weder Bentham noch der Utilitarismus haben verdient, dass ausgerechnet dieser verunglückte Slogan an ihnen klebengeblieben ist.

      Später drückte Bentham es anders aus: Die Politik soll das Glück der Bürger mehren und nicht mindern. Das hört sich heute nach einer selbstverständlichen Forderung an, aber zu Benthams Zeit war es das noch nicht – gerade eben war damals der Merkantilismus überwunden, dessen Vertreter sich besonders für den Zufluss von Edelmetallen in Volkswirtschaften interessierten, und neu war auch der Gedanke, dass das Glück aller gleichermaßen zählen sollte. Bis »gestern«, schrieb Bentham 1821, seien überall auf der Welt nur Tyrannen an der Macht gewesen, die sich bloß um ihr eignes Glück geschert hätten.

      Im 19. Jahrhundert entwickelte sich die Wirtschaftswissenschaft im Fahrwasser von Benthams Utilitarismus. Erstens haben Ökonomen die Vorstellung übernommen, dass das Wohlergehen einer Gesellschaft nichts anderes ist als die Summe des Wohlergehens ihrer Mitglieder. (Dagegen mag es Ziele geben, die ein Gebilde wie eine »Nation« zum Beispiel militärisch erreichen könnte, ohne dass die Bürger davon etwas haben, ja vielleicht sogar zu ihren Lasten. So etwas mutet für Ökonomen seltsam an.) Zweitens schwebt Benthams Geist über fast jedem ökonomischen Modell, denn er meinte, Menschen würden ständig berechnen, wie sie ihre Freude mehren und ihr Leid verringern könnten. Das hört sich nach einem reichlich simplen Menschenbild an, ist es aber nicht. Bentham sieht, dass es viele verschiedene Quellen von Freude und Leid gibt: nicht nur Sinnesfreuden, sondern auch Freuden der Freundschaft, Freuden der Macht, Freuden der Einbildungskraft oder Freuden der Frömmigkeit. Ferner Leiden der Sinne, Leiden des schlechten Rufs, Leiden der Erinnerung, Leiden der Frömmigkeit und so weiter.

      Reichtum kann direkt Freude bereiten, kann aber auch Mittel sein, um andere Freuden zu erlangen. So wie viele moderne Ökonomen stellte schon Bentham die Frage, wie sich materieller Wohlstand auf das Glück auswirkt. Solange besondere Umstände wie Krankheit oder anderes persönliches Unglück keine Rolle spielen, sollte von zwei Personen die reichere die glücklichere sein. Allerdings unterscheiden sich die Glücksniveaus der beiden weniger als ihr Reichtum, denn je reicher jemand schon ist, desto weniger wächst das Glück mit einem zusätzlichen Taler, Pfund, Dollar oder Euro. Für heutige Ökonomen ist das eine Selbstverständlichkeit (und heißt »abnehmender Grenznutzen des Geldes«), Bentham aber musste viel Mühe darauf verwenden, diesen damals neuen Gedanken zu erklären. Der Leser, schrieb er, solle sich tausend Bauern vorstellen, deren Einkommen zum Überleben reicht und für ein bisschen mehr. Und dazu einen König, der so reich ist wie die tausend Bauern zusammen, oder besser noch einen Prinzen anstelle des Königs, damit er die Mühe des Regierens nicht hat, sondern seinen Reichtum genießen kann. Dieser Prinz sei nun sicherlich glücklicher als ein durchschnittlicher Bauer – aber nicht tausendmal glücklicher. Selbst wenn er nur fünf- oder zehnmal glücklicher sei, wäre das schon bemerkenswert, meinte Bentham.

      Wenn Geld nun aber den Armen mehr Glück bringt als den Reichen, dann müsste man konsequenterweise folgern, dass das Glück insgesamt am größten wäre, wenn alle gleich viel hätten. Und Bentham tat das auch. Was nicht heißt, dass er meinte, man solle den Reichen