Der Trotzkopf. Emmy von Rhoden. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Emmy von Rhoden
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783849615390
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"Da liegen wir ja doch in unsren Betten."

      "Schweig!" entgegnete Nellie und legte abermals den Finger auf den Mund. "Das ist meines Geheimnis." – –

      Ilse erhielt ihren Platz neben der Vorsteherin. An ihrer andern Seite saß eine junge Russin, Orla Sassuwitsch. Dieselbe war eine pikante, elegante Erscheinung mit kurzgeschnittenem, schwarzen Haar, sehr lebhaften, dunklen Augen und einem Stumpfnäschen. Sie zählte siebzehn Jahre, sah aber älter aus. Uebrigens sprach sie fließend deutsch.

      Ilse hätte gern neben Nellie gesessen, mit der sie in den wenigen Stunden so vertraut geworden war, die aber saß weit entfernt von ihr. Augenblicklich hatte sie ihren Platz noch gar nicht eingenommen, sondern sie stand mit noch einem Mädchen an einem Nebentische und war der Wirtschafterin behilflich, den Thee zu servieren.

      Es war ein allerliebster Anblick, die jungen Mädchen mit ihren sauberen Latzschürzen so häuslich geschäftig zu sehen. Geschickt gingen sie an den Tafeln entlang und reichten die Tassen herum.

      Verschiedene Schüsseln mit Butterbrötchen, die reichlich mit Wurst und Braten belegt waren, standen verteilt auf den Tischen.

      Fräulein Raimar ergriff die vor ihr stehende und reichte sie Ilse.

      "Nimm dir," sagte sie, "und gieb dann weiter an deine Nachbarin."

      Ilse war hungrig. Am Mittag hatte sie fast keinen Bissen genießen können, jetzt aber machte die Natur ihre Rechte geltend. Sie nahm sich vier Schnitten auf einmal, legte zwei und zwei aufeinander und verschlang den ganzen Vorrat in drei bis vier Bissen. Freilich hatte sie den Mund recht voll, die Backen traten wie geschwollen heraus, das kümmerte sie indes wenig, sie war gewohnt, von einem ländlichen Butterbrote tüchtig abzubeißen, so zarte Theebrötchen hatte sie daheim stets verschmäht. Als sie trank, hielt sie ihre Tasse mit beiden Händen und stützte die Ellbogen dabei auf den Tisch.

      Fräulein Raimar hatte nicht acht auf Ilse gegeben und wurde erst aufmerksam, als sie in ihrer Nähe unterdrücktes Kichern hörte. Melanie und Grete Schwarz, zwei Schwestern aus Frankfurt am Main, die Ilse gerade gegenüber saßen, amüsierten sich köstlich über deren Ungeniertheit, stießen heimlich ihre Nachbarinnen an und zeigten verstohlen auf die nichts ahnende.

      Ein strenger Blick der Vorsteherin brachte die Mädchen zur Ruhe. Sie liebte es nicht, daß über andrer Schwächen und Fehler gespottet wurde. Ueber Ilses unmanierliche Art zu essen sagte sie vorläufig nichts, um sie nicht vor den vielen Mädchen zu beschämen, erst unter vier Augen pflegte sie dergleichen Fehler zu rügen.

      "Bist du noch hungrig, Ilse?" fragte sie. Statt einer Antwort nickte diese mit dem Kopfe, sie hatte ja erst angefangen zu essen.

      Abermals wurde ihr die Brotschüssel gereicht und abermals nahm sie die gleiche Portion und verzehrte dieselbe genau in der früheren Weise.

      "Die ist gefräßig!" flüsterte die fünfzehnjährige Grete ihrer um zwei Jahre älteren Schwester zu. "Sieh nur, wie sie wieder stopft."

      Melanie mußte die Hand vor den Mund halten, sonst hätte sie laut herausgelacht.

      Um halb acht Uhr war das Abendessen vorbei und zugleich den Pensionärinnen die Erlaubnis gegeben, frei zu thun, was sie wollten, bis neun Uhr. Dann war Schlafenszeit.

      "Komm," sagte Nellie und trat auf Ilse zu, "ich werde mit dich in die Garten spazieren. Aber du hast ja dein Serviette noch nicht schön gelegt und die Ring drauf gezogen! Das mußt du erst machen."

      "Nein," entgegnete Ilse, "das werde ich nicht! Wozu sind denn die Dienstmädchen da? Zu Hause hatte ich niemals nötig, solche Dinge zu thun."

      "Ist egal, meine liebe Kind. Hier mußt du solche Dinge thun, wir machen es alle."

      Richtig, da lagen sämtliche Servietten sauber zusammengewickelt, sie war die einzige, die es nicht gethan hatte. Ungeduldig nahm sie die ihrige, schlug sie flüchtig zusammen und zog den Ring darüber.

      "So nicht," meinte Nellie, "das ist ungeschickt."

      Und sie faltete die Serviette noch einmal schnell und geschickt mit ihren kleinen Händen. Die junge Engländerin hatte bei allem, was sie that, Grazie und Anmut, es war eine Lust, ihr zuzusehen.

      "Nun schnell in der Garten!" sagte sie, nahm Ilses Arm und führte sie dorthin.

      Es war ein hübscher Garten, den Ilse jetzt kennen lernte. Nicht so groß und parkartig wie der heimatliche, aber wohl gepflegt. Schöne, hohe Bäume standen darin, auch fehlte es nicht an lauschigen Plätzen. Von allen Seiten sah man auf die grünbewaldeten Berge.

      "Ist es nicht nett hier?" fragte Nellie, habt ihr bei dich auch so schöne Berge?"

      "Nein, Berge haben wir nicht," entgegnete Ilse, "aber es gefällt mir doch besser bei uns. Es ist alles so frei, ich kann das ganze Feld übersehen. Eine Mauer haben wir auch nicht um unsren Park, nur eine grüne Hecke, das ist viel hübscher."

      Nellie zeigte ihr sämtliche Lieblingsplätze. Sie führte sie zur Schaukel, zum Turnplatz und zuletzt zu einer alten Linde, die mit ihren breiten Zweigen und Aesten einen großen, runden Raum beschattete.

      "O, es ist süß hier! Nicht wahr?" fragte sie entzückt und sah mit leuchtenden Augen hinauf in das grüne Blätterdach. "Hier machen wir unsre Ruhe zu Mittag. Dieser alter Baum kann viel erzählen, wenn er sprechen will! Er weiß so viel Geheimnisse, die hier verraten sind!"

      Bei dem Geplauder Nellies verging die Zeit schnell. Ilse, die am Morgen sich so unglücklich gefühlt hatte, die am Nachmittage geglaubt hatte, daß sie nie die Trennung vom Papa überleben könne, hatte schon verschiedenemal herzlich über Nellie lachen müssen, denn diese hatte eine so drollige Art, sie auf diese oder jene Pensionärin aufmerksam zu machen.

      "Wie heißt das junge Mädchen, das bei Tische neben mir sitzt?" fragte Ilse.

      "Die mit die kurze Haar und der Klemmer auf die Nase? Das ist Orla Sassuwitsch. Oh sie ist klug! Wir haben alle eine kleine wenig Furcht für sie, weil sie immer die Wahrheit gerade in die Gesicht sagt."

      "Das ist doch hübsch," meinte Ilse.

      "O ja, wenn sie angenehm ist, aber zuweilen thut die Wahrheit weh, das hört keiner Mensch gern. Wenn ich zu sie sagen würde: ›Orla, du hast geraucht!‹ das würde sie gar nicht gefallen, und es ist doch die Wahrheit. Ich habe durch ihr Schlüsselloch geluxt und habe große, rauchige Wolken gesehen. –"

      Sie waren jetzt bei einer Trauerweide angelangt, die ihre grünen Zweige bis auf den Boden gesenkt hatte. Nellie blieb stehen und bog einige Zweige auseinander.

      "Hier, Ilse, stell ich dich unsre Dichterin vor," sagte sie lachend.

      Die Angeredete blickte hinein und sah ein junges Mädchen auf einer kleinen Bank sitzen, die hochaufgeschossen, blond und blaß, und deren Gesicht mit zahllosen Sommersprossen bedeckt war. Dieselbe hatte auf dem Schoße ein dickes, blaues Heft, in welchem sie eifrig schrieb.

      Mit einer gewissen neugierigen Scheu blickte Ilse sie an, es war ihr so neu, daß junge, siebzehnjährige Mädchen schon dichten können.

      "Sie schreibt Romane," fuhr Nellie fort, "aber wie! Es kommen immer zerbrochene Herzen drin vor. – Du wirst dir die Auge schaden, du hast ja keine Licht genug zu deine Romane!"

      Bis dahin hatte Flora Hopfstange sich nicht stören lassen in ihrer Arbeit, jetzt aber wurde sie ärgerlich.

      "Ich bitte dich, laß mich in Ruhe, Nellie!" rief sie und schlug ihr hellblaues Auge schwärmerisch auf. "Ich hatte eben einen so wundervollen Gedanken, nun habe ich ihn verloren!"

      "O, ich will ihn suchen!" neckte Nellie und bückte sich auf die Erde nieder, als ob