Die Akten zeigten, dass es ihnen damals noch nicht einmal gelungen war, das Firmengeflecht aus Bau-, Planungs-, Projekt- und Verwaltungsunternehmen, das mit dem gewaschenen Geld finanziert wurde, so weit aufzuschnüren, dass Rosetti selbst ohne Zweifel damit in Verbindung zu bringen war. Güdner schien an der Aufgabe schier verzweifelt zu sein. Probleme machten vor allem die Struktur und Verschachtelung der Firmen, die in wenigstens fünfzehn Ländern saßen, von denen die meisten keine Auskünfte erteilten. Und die Angst der Beteiligten, die sich im Dunstkreis des Syndikats befanden. Den Akten nach hatten sie lange auf der Stelle getreten, bis schließlich wie so oft der Zufall die Ermittlungen angestoßen hatte.
Einige italienische Wirte, die legal arbeiteten, sahen sich durch die Machenschaften der Rosettis zunehmend in Verruf gebracht und begannen zu opponieren. Zeugen tauchten auf und erstatteten Anzeige, was ihnen neue Ansatzpunkte geliefert hatte. Die Organisation jedoch unterdrückte die streitbaren Wirte brutal. Auch hier gab es eine Arbeitsteilung. Die Italiener machten sich nicht selbst die Finger schmutzig, sondern beauftragten Armenier, Albaner oder Kosovaren damit, für Ordnung zu sorgen. Diese bedrohten die Wirte, schlugen sie zusammen oder zündeten ihre Autos an. Schließlich wurden die Anzeigen allesamt zurückgezogen.
Und obwohl es der Polizei gelang, einen der Täter zu schnappen, ließ sich keine Verknüpfung zur Organisation herstellen. Der Schläger wurde bestraft, mehr geschah nicht. Die kurze Hoffnung auf einen Durchbruch war dahin – bis es Finkler gelungen sein musste, im Nachgang der ganzen Geschichte eine Kontaktperson aus der unmittelbaren Nähe der Familie umzudrehen.
Sein Unfall hatte die Ermittlungen praktisch auf Eis gelegt und alle schienen zu hoffen, dass es nun mit seiner Hilfe und seinem Wissen weiterging.
Was das Aufarbeiten erschwerte, waren Lücken in den Unterlagen. Zu seinem Kontakt fanden sich beispielsweise keine konkreten Angaben. Weder ein Name noch ein Foto waren zu finden. Im Normalfall wurden sie dazu angehalten, regelmäßig einen Bericht abzuliefern. Eigentlich müsste er Prock oder Daniel fragen, ob es eventuell eine ausgelagerte Fallakte gab, in der man Teile der Hauptakte zusammengefasst hatte. Doch wie sollte das gehen, ohne zuzugeben, dass er alle Erinnerungen verloren hatte? Wenn das Prock zu Ohren käme, würde er endgültig bei ihm durchfallen.
Seine Pflegemutter hatte in solchen Situationen immer einen Spruch auf Lager gehabt, der ihm nun einfiel: Schlimmer geht immer.
2
Dienstag, 15. November
Eine neue Laterne beleuchtete die Straße. Auch die Begrenzungspfosten waren erneuert und die zerfurchten Hauswände saniert worden. Nichts wies mehr darauf hin, dass sich an dieser Stelle jemals ein Unfall ereignet hatte, nichts. Nur sein Kopf war nach wie vor versehrt, innen wie außen.
Finkler war wie so oft seit dem Koma schweißgebadet mitten in der Nacht hochgeschreckt und hatte die Bilder eines Traums nicht aus dem Kopf bekommen. Er träumte seit dem Unfall so realistisch, als wäre er tatsächlich am Ort des Geschehens. Es war zum Fürchten, fühlte sich an, als verliere er den Verstand, aber nur hier durchbrach er die Leere seiner Amnesie. Nie war es jedoch so intensiv gewesen wie heute. In dieser Nacht ließen sie nicht mehr von ihm ab. Er sah die Bilder des Unfalls wie in einer Diashow immer wieder, hörte Güdner schreien und sah ihn sterben. Ob sich alles genauso ereignet hatte, wer wusste das schon?
Nachdem er lange schlaflos durch seine Wohnung gewandert war, hatte er kurz vor Tagesanbruch den Entschluss gefasst, erstmals herzufahren.
Er parkte den BMW und beobachtete eine Weile die Frühpendler, die ab und an die Straße durchfuhren, die er nur aus seinen Träumen kannte und die ihm doch so vertraut war.
Was wollte er hier? Antworten?
Irgendwann in der chaotischen Nacht war ihm eine Idee gekommen. Wenn er im Traum den Unfallhergang so realistisch erlebte, dann waren seine Erinnerungen vielleicht tatsächlich nicht unwiederbringlich verloren.
Sarah Herbst, seine Psychologin, hatte ihm von Triggern erzählt, die sein Gehirn dazu bringen konnten, verschüttete Erinnerungen herauszulassen. Das konnten zufällige Ereignisse, Beobachtungen, Gerüche oder eben auch Orte sein, die in ihm Erinnerungen zutage brachten. Vielleicht bräuchte es also nur den richtigen Auslöser, um die Blockade zu überwinden.
Mit zittrigen Fingern öffnete er die Tür und verließ das Auto. Sofort flackerte eine Szene auf: Das Mädchen radelte auf dem Fahrrad mit schreckensweiten Augen auf ihn zu, dahinter der Lkw. Fast wäre er zur Seite gesprungen, als die Scheinwerfer eines Autos ihn erfassten.
Auf der gegenüberliegenden Seite ratterten Rollläden nach oben.
Finkler ging weiter. Schräg gegenüber war eine große 17 auf die Hauswand gemalt. Hier wohnte Lieselotte Zöllner. Die alte Frau hatte eine Aussage zum Unfall gemacht, der exakt gegenüber ihrer Wohnung geschehen war. Wenige Meter also nur noch bis zu dem Ort, wo der Lkw Güdner überrollt und Finkler davongeschleudert hatte.
Plötzlich hörte er Schreie und drehte sich um. Doch da war niemand. Erneut hörte er jemanden rufen. Und jetzt erkannte er die Stimme. Es war Güdner.
Finkler presste die Hände auf die Ohren und schloss die Augen. Erfolglos. Die Bilder, die er schon in seinem Traum gesehen hatte, waren wieder da und hüllten ihn ein, als ob sie sich in der Sekunde vor seinen Augen abspielen würden. Die Straße wurde in helles Sonnenlicht getaucht. Er hörte das Dröhnen des Motors, sah den silbernen Einsatzwagen, Güdners Winken. Überdeutlich erkannte er den Lkw. Jeden Rostfleck registrierte er. Dann erblickte er hinter der Scheibe des Lkw ein Gesicht. Augen starrten ihn unter dunkel gelockten Haaren an. Emotionslos. Ein Bild, scharf und deutlich wie auf einem Foto.
Das Fahrrad mit dem Schriftzug Koga Miyata blinkte in der Sonne. Eine Hupe ertönte und zerriss die Bilder. Er saß an die Hauswand gelehnt auf dem Gehweg und sah benommen eine Beifahrertür aufgehen. Ein Mann sprang eilig in einen wartenden Wagen. Kurz war Musik zu hören, dann fuhr das Fahrzeug davon.
Finkler rappelte sich auf und wankte zurück zum Auto, warf sich auf den Fahrersitz und zog die Tür hinter sich zu. Den Kopf zurückgelehnt rang er nach Atem.
Es hatte nicht funktioniert, jedenfalls nicht so, wie er es sich vorgestellt hatte. Die Straße war ein Trigger, daran gab es keinen Zweifel, doch produzierte dieser nur verworrene Bilder. Er war naiv gewesen. Ein Gehirn war nun mal kein Computer, den man neu booten konnte.
Finkler sah auf die friedlich daliegende Straße. Und dennoch – auch wenn ihn der Besuch hier am Unfallort nicht einen Schritt weitergebracht hatte, war trotz allem etwas anders. Etwas, worüber er später unbedingt mit Sarah Herbst sprechen wollte. Denn in seinem Inneren waren die Dinge in Bewegung geraten. Erst der Traum in der Nacht, der so klar und zusammenhängend gewesen war wie nie zuvor, und jetzt Trugbilder, die ihn mitten auf der Straße in der gleichen Intensität und Wirklichkeitsnähe überfielen wie zuvor nur im Schlaf.
Ja, etwas war in Bewegung geraten. Er konnte nur noch nicht sagen, ob es gut oder schlecht war.
Er drehte den Schlüssel und der Motor sprang surrend an. Wieder sah er die Augen des Fahrers, nahm wahr, wie genau er ihn fixierte, erkannte die Absicht, ihn zu erwischen.
Sein Unfall war kein Zufall gewesen, kein außer Kontrolle geratener Lkw hatte ihn verletzt, nein, es war ein Anschlag.
***
Übermüdet fuhr Finkler direkt vom Unfallort ins Präsidium. Kalter Sprühregen rieselte unangenehm aus einem schiefergrauen Himmel. Zwar hatte er am Vormittag einen Termin bei Sarah Herbst, doch er wollte sich vorher im Büro zeigen und den Eindruck vermeiden, Procks Verhalten hätte Wirkung gehabt.
Im Büro sah Schulz von einer Akte auf und lächelte freundlich zur Begrüßung. Alles an ihm war ordentlich. Haare, Kleidung, sein Schreibtisch. Finkler hingegen hatte das Erstbeste angezogen, das ihm in die Hände gefallen war, und erst eben im Treppenhaus