Unsere Welt bietet neben gesunden rauschhaften Erlebnissen für den jungen Menschen eine ganze Reihe zweifelhafter Ekstasen: den Rausch der aufheulenden Motoren und die Jagd über Landstraßen; den Rausch der Lichter und Töne in irgendeinem Schuppen, in dem Gefühle hochgepumpt werden; den Rausch der heißen Rhythmen und der grellen Farbblitze, der gekeuchten und gestöhnten Texte, die niemand mehr versteht; den Rausch der Gewalt und die Faszination der Macht in irgendeiner angsteinflößenden Lederwestenschlagringbande; den Rausch der Menge im brüllenden Stadion; den Rausch des Alkohols und der Droge …
Und wenn gar nicht wenige den Versuchungen dieser trügerischen Räusche erliegen, dann verbirgt sich dahinter doch ein elementares Bedürfnis, ein verzweifeltes Sich-Aufbäumen gegen ein fadisiertes Dasein oder eine drückende Vereinsamung, eine sinnlose Leere oder einen zu erlebnisarmen Alltag. Die Berge halten edlere Räusche bereit: den Aufstieg durch den Bruch in der Sternennacht; das Farbenspiel des Morgens über den erstarrten Schaumkronen des Gletscherkamms; die mühelosen Schwünge im Frühjahrsfirn; die luftige Gratkletterei über dem Nebelmeer; die ausgelassen fröhliche Rast der Seilschaft auf dem Gipfel; das Abendlied der Gletscherbäche und Rinnsale im weiten Talschluss. Wer diese Räusche gekostet hat, braucht weder Heroin noch Marihuana.
Und eines haben die edlen Räusche den gefährlichen voraus: Diese hinterlassen einen Kater, jene aber eine strahlende Erinnerung, die nur beschwingt, aber nicht belastet – einen wunderbaren Schatz für graue Tage …
Der Wasserfall
Die wärmenden Berge
Zu bestimmten Jahreszeiten gibt es im Gebirge das Phänomen des Kältesees. Da kann es sein, dass man im Tal unter einer Nebelschicht fröstelt und droben bei strahlender Sonne die Schwünge über Firnhänge in Hemdsärmeln machen kann …
Es gibt in den Niederungen unserer Welt heute auch einen Kältesee anderer Art, der sich dort ausbreitet, wo immer mehr Menschen auf engem Raum zusammengeballt leben müssen, einen Kältesee, von dem die Psychologen, Sozialhelfer und Seelsorger unserer Zeit sehr wohl wissen: dem Kältesee der Vereinsamung und Isolation. In diesem kühlen Klima verkümmern, frösteln Anteilnahme, Einfühlung, Begegnung, Hilfsbereitschaft und Gemeinsinn. Dieser kalte Nebel legt sich über Stadtviertel und Hochhäuser. Man lebt in Anonymität aneinander vorbei.
Es wäre natürlich vermessen zu behaupten, die Berge seien einfach die heile Welt, in der alles besser würde. Wenn einige Tausend sich auf dem Gletscher tummeln, ist Masse und Anonymität genauso gegeben. Aber dieses Buch wendet sich ja an die Bergwanderer und Bergsteiger. Wer die Berge auf diese Weise durchzogen hat, weiß es: Der Berg ist eine Chance menschlicher Begegnung. Auf den Höhen rücken die Menschen zusammen. Schon auf den Pfaden über der Stadt grüßt jeder jeden, Innsbruck grüßt Wuppertal und Amsterdam grüßt München. Bereits drunten am Parkplatz hört sich das auf. Auf dem Asphalt hasten wir grußlos aneinander vorbei – es wäre auch eine Überforderung. Gruppen wachsen auf dem Berg zusammen wie sonst kaum wo. Eine alpine Woche wird zu einer Schule des Miteinander und des Füreinander. Da wird Rücksicht auf den Schwächeren gefordert, Geduld mit dem Anfänger, Einfügen in die Kameradschaft, das Teilen des heißen Tees. Der Mastwurf oder Achter, der dich in eine Seilschaft hängt, bringt mehr Verbindung und Gemeinsamkeit als das geschäftige und künstliche Getue vieler Animateure. Und der Berg weckt Hilfsbereitschaft. Es brechen Formen der Kameradschaft auf, die im Alltag des urbanisierten Menschen nicht so leicht gedeihen. Der ganze Bergrettungsdienst unseres Landes lebt letztlich von freiwilligem Idealismus. Und dieser Trend zum Zueinander, Miteinander und Füreinander ist Gottes ewiges Programm. Ist es ein Zufall, dass das Lied vom barmherzigen Samariter zum ersten Mal in der einsamen Bergwüste von Juda erklang?
Nachtwanderer auf den Gleinser Mähdern
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