»Ich sagte, ob Ihr nicht Monsieur darüber belehren wollet, was für ein Schuh dies sei.«
»Es ist ein Frauenzimmerschuh – ein Schuh zum Ausgehen für eine junge Dame. Ganz nach der gegenwärtigen Mode. Ich kenne zwar die Mode nicht aus eigener Anschauung, habe aber ein Muster in der Hand gehabt.«
Er blickte mit einem kleinen Anflug von Stolz auf seinen Schuh.
»Und wie heißt der Verfertiger?« fragte Defarge.
Da der alte Mann jetzt keine Arbeit zu halten hatte, so legte er zuerst die Knöchel seiner rechten Hand in die hohle Fläche der linken und dann die Knöchel der linken in die Fläche der rechten. Darauf fuhr er mit einer Hand über das bärtige Kinn. Dies trieb er eine Weile in regelmäßiger Abwechslung, ohne auch nur einen Augenblick auszusetzen. Die Aufgabe, ihn aus der Gedankenlosigkeit, in die er nach jeder seiner Reden versank, zu wecken, ließ sich mit den Belebungsversuchen an einem Ohnmächtigen oder mit der Bemühung vergleichen, den Geist eines rasch dahinsterbenden Menschen, von dem man noch eine Enthüllung wünscht, zurückzuhalten.
»Habt Ihr mich nach meinem Namen gefragt?«
»Jawohl.«
»Hundertundfünf, Nordturm.«
»Ist dies alles?«
»Hundertundfünf, Nordturm.«
Mit einem müden Ton, der weder ein Seufzen noch ein Stöhnen war, beugte er sich wieder vor, bis die Stille aufs neue unterbrochen wurde.
»Ihr seid kein Schuhmacher von Gewerbe?« sagte Mr. Lorry, ihn fest ansehend.
Die hohlen Augen richteten sich auf Defarge, als erwarteten sie von ihm die Beantwortung der Frage; da aber von dieser Seite her keine Hilfe kam, so suchten sie eine Weile den Boden und blieben endlich auf dem Frager haften.
»Ob ich ein Schuhmacher von Gewerbe sei? Nein, ich bin es nicht. Ich – ich habe es hier gelernt – aus mir selbst – ohne Lehrmeister. Ich bat um die Erlaubnis, mich –«
Er war aufs neue für einige Minuten weg und wiederholte während dieser Zeit die vorhin beschriebenen Gesten. Endlich kehrten seine Augen langsam zu dem Gesicht zurück, von dem sie abgeschweift waren, und ruhten darauf eine Weile, bis er zusammenfuhr und in der Art eines Schlafenden in dem Moment des Erwachens den unterbrochenen Gegenstand wiederaufnahm.
»Ich bat um die Erlaubnis, mich unterrichten zu dürfen, und erhielt sie auch lange Zeit nachher mit vieler Mühe. Seitdem habe ich immer Schuhe gemacht.«
Als er die Hand nach dem Schuh ausstreckte, der ihm abgenommen worden war, sagte Mr. Lorry, sein Gesicht unverwandt betrachtend:
»Monsieur Manette, erinnert Ihr Euch meiner nicht mehr?«
Der Schuh sank zu Boden, und der alte Mann starrte den Frager an.
»Monsieur Manette«, fuhr Mr. Lorry fort, indem er seine Hand auf Desarges Arm legte, »erinnert Ihr Euch nicht mehr dieses Mannes? Seht ihn an. Seht mich an. Entsinnt Ihr Euch nicht eines alten Bankiers, eines alten Geschäfts, eines alten Dieners und einer früheren Zeit, Monsieur Manette?«
Wahrend der vieljährige Gefangene dasaß und mit seinem starren Blicke bald Mr. Lorry, bald Defarge ansah, drängten sich allmählich in der Mitte der Stirne einige längst verwischte Spuren tätigen Verstandes durch die dichte Nebelhülle. Aber sie traten schnell wieder in den Schatten zurück, wurden schwächer und waren entschwunden. Jedoch sie waren wenigstens dagewesen. Und so genau wiederholte sich der Ausdruck auf dem Antlitz des schönen jungen Wesens, das an der Wand hin nach einer Stelle geschlichen war, von der aus es ihn sehen konnte, und wo es jetzt stand, die Hände anfangs nur in angstvoller Teilnahme, vielleicht wohl gar in der Absicht erhebend, ihn zurückzuhalten oder seinen Anblick auszuschließen, jetzt aber sie gegen ihn ausstreckend, zitternd vor Begier, das gespenstische Gesicht an die warme jungfräuliche Brust zu drücken und es durch Liebe dem Leben und der Hoffnung zurückzugeben – ich sage, der Ausdruck wiederholte sich, obschon in kräftigeren Zügen, so genau auf dem schönen jugendlichen Antlitz, daß es den Anschein gewann, als sei es wie ein bewegliches Licht von ihm auf sie übergegangen.
Bei ihm war es wieder dunkel geworden. Er betrachtete die beiden weniger und weniger achtsam. Seine Augen suchten in düsterer Zerstreutheit abermals den Boden und schauten aufs neue in der alten Weise umher. Endlich nahm er mit einem tiefen Seufzer den Schuh auf und arbeitete weiter.
»Habt Ihr ihn erkannt, Monsieur?« fragte Defarge flüsternd.
»Ja, für einen Augenblick. Anfangs hatte ich keine Hoffnung, aber ein einziger Augenblick zeigte mir unzweifelhaft das Gesicht, das mir früher gut bekannt war. Pst! Wir wollen uns ein wenig zurückziehen. Pst!«
Sie war von der Wand der Kammer weg- und der Bank nahegetreten, auf der er saß. Es lag etwas Unheimliches in dem Umstand, daß er, während er mit seiner Arbeit beschäftigt war, so gar keine Ahnung hatte von der Gestalt, die, wenn sie ihre Hand ausstreckte, ihn berühren konnte.
Kein Wort wurde gesprochen, kein Laut fiel; sie stand wie ein Gespenst an seiner Seite, und er arbeitete fort.
Endlich fügte sich's, daß er das Werkzeug in der Hand weglegen und die Zange nehmen mußte. Sie lag auf der andern Seite, nicht auf der, wo das Mädchen stand. Er hatte sie ergriffen und beugte sich wieder über seine Arbeit hin, als seine Augen den Schoß ihres Kleides bemerkten. Er richtete sich auf und sah ihr Gesicht. Die beiden Zuschauer wollten vorwärts eilen, aber sie winkte ihnen zurück. Sie fürchtete nicht, daß er sie mit der Zange beschädigen könnte; nur ihnen war nicht wohl zumute bei der Sache.
Er starrte sie mit einem besorgniserregenden Blick an, und nach einer Weile begannen seine Lippen einige Worte zu bilden, ohne jedoch Laute hervorzubringen. Endlich hörte man ihn während einer der Pausen zwischen seinen raschen und schweren Atemzügen sagen:
»Was ist das?«
Tränen entströmten ihren Augen, während sie ihre beiden Hände an die Lippen führte und ihm einen Kuß zuwarf. Dann drückte sie die Hände an die Brust, als wolle sie das welke Haupt hier zur Ruhe bringen.
»Ihr seid doch nicht des Schließers Tochter?«
»Nein«, seufzte das Mädchen.
»Wer seid Ihr?«
Der Kraft ihrer Stimme noch nicht trauend, setzte sie sich auf der Bank an seine Seite. Er wich zurück, aber sie legte ihre Hand auf seinen Arm. Ein seltsames Gefühl durchschauerte dabei seinen ganzen Körper; er legte sachte das Messer nieder und starrte sie an.
Sie hatte ihr goldiges Haar, das sie in langen Locken trug, rasch zurückgestrichen, so daß es über ihren Nacken niederfiel. Er brachte seine Hand allmählich näher und näher, faßte es an und betrachtete es. Dann aber wurde sein Geist plötzlich wieder irre, und er nahm mit einem abermaligen Seufzer aufs neue seine Arbeit auf.
Aber nicht für lange. Sie hatte seinen Arm losgelassen und die Hand auf seine Schulter gelegt. Nachdem er zweifelnd zwei- oder dreimal danach hingesehen, als wolle er sich überzeugen, daß sie wirklich daliege, schob er die Arbeit beiseite, griff nach seinem Hals und nahm von demselben eine geschwärzte Schnur, an der ein zusammengelegter Lappen befestigt war. Diesen breitete er sorgfältig auf seinem Knie auseinander und brachte ein kleines Löckchen hervor; es waren nur einige lange, goldige Haare, die er in irgendeiner alten Zeit wohl oft um seinen Finger gewunden hatte.
Er nahm ihr Haar wieder in seine Hand und betrachtete es aufmerksam.
»Es ist dasselbe. Wie kann dies sein? Wann war es? Wie war es?«
Die Furche auf seiner Stirn kehrte zurück, und er schien eines ähnlichen Ausdrucks auf der ihrigen sich bewußt zu werden. Er drehte sich voll gegen das Licht und sah sie an.
»Sie hatte ihr Haupt auf meine Schulter gelegt an jenem Abend, als ich hinausgerufen wurde – sie fürchtete sich, als ich ging, obschon ich unbesorgt war –, und als man mich nach dem Nordturm brachte, fand man dies auf meinem Ärmel. ›Ihr laßt sie mir doch?