Der Mann, der schmal und in der Uniform eines italienischen Obersten hinter dem Schreibtisch sitzt, gehört seit mehr als drei Jahren dem italienischen Geheimdienst, der O. V. R. A. an, jener Organisation, die nach der Kapitulation Badoglios an der Seite Deutschlands geblieben ist. Brandt kennt Lorenzoni von La Spezia her, wo die Ausbildung der Froschmänner stattfindet. Es ist aber schon lange Zeit her, dass man sich das letzte Mal gesehen hat.
»Ich danke Ihnen, dass Sie so rasch gekommen sind«, lässt sich der Oberst vernehmen. Er richtet den Blick seiner etwas zu eng nebeneinander stehenden dunklen Augen auf Brandt: »Sollten nicht vier Mann von der ›Gruppe Seeadler‹ kommen?«
»Sie werden im Laufe des morgigen Tages eintreffen, Colonello.«
Der andere nickt. Dann stellt er Fragen über die letzten Einsätze. Brandt erstattet knapp Bericht, während im Hintergrund Leutnant Amadeo Massimo sitzt und mit leuchtenden Augen der Unterhaltung zuhört.
»Gut«, sagt schließlich der Oberst. »Sie wissen ja schon beiläufig, worum es diesmal geht, nicht wahr?« »Jawohl. Bari steht auf dem Dienstplan.«
»Eine harte Nuss, Sottotenente. Ich glaube aber, dass wir sie knacken werden. Genaueres besprechen wir morgen, wenn die beiden anderen Herren bei uns eingetroffen sind. Ich hörte, dass Sie beim letzten Einsatz schwer verwundet wurden, Leutnant Brandt? Ist die Verwundung inzwischen auskuriert worden?«
»Ich fühle mich wohl, Colonello.«
»Was war es für eine Verwundung?«
»Schulterdurchschuss.«
»Lungenverletzung?«
»Nur gestreift.«
»Ich werde Sie Dottore Brunelli vorstellen«, sagt Lorenzoni.
»Ich glaube, das ist nicht notwendig, Colonello«, erwidert Brandt rasch.
Ein prüfender Blick huscht herüber und tastet das schmale Gesicht des deutschen Leutnants ab.
»Sie wissen«, sagt Lorenzoni mit leisem Nachdruck, »dass Sie vollkommen gesund sein müssen, um den Strapazen eines schweren Einsatzes gewachsen zu sein. Draufgängertum ist lobenswert, ich möchte aber nicht, dass Sie sich zu viel zumuten.«
Brandt spürt Ärger in sich aufsteigen. Schließlich weiß er doch selbst, was er sich zumuten kann.
»Ich bin gesund«, sagt er ruppig.
»Und wie oft wurden Sie schon verwundet?«
»Ich glaube sieben Mal. Viermal leicht, dreimal etwas schwerer.«
Kurzes Schweigen. Im Hintergrund räuspert sich Amadeo. Dengler zerknautscht seine Mütze.
»Und Sie, Feldwebel Dengler«, wendet sich Lorenzoni an den anderen, »Sie werden wieder dieselbe Aufgabe übernehmen, die Sie schon öfters hatten. Nur mit dem Unterschied, dass ein neuer Code verwendet wird, mit dem Sie sich noch vertraut machen müssen.«
»Jawohl, Colonello.«
»Va bene. Das wäre für heute alles.« Lorenzoni erhebt sich. »Sie werden müde sein. Massimo, bitte weisen Sie den Kameraden das Quartier an.«
Amadeo springt dienstbeflissen auf. »Si, Colonello.«
Lorenzoni reicht Brandt und dann Dengler die Hand. »Ich freue mich sehr, dass Sie zu uns gestoßen sind. Morgen sprechen wir ausführlich über den Einsatzplan. Ich wünsche Ihnen jetzt eine gute Nacht, meine Herren.«
Sie sind entlassen. Unten warten die anderen.
»Weißt du«, sagt Amadeo zu Brandt, »der Alte ist zu verantwortungsbewusst, als dass er jemanden in die Hölle schickt, der gesundheitlich nicht ganz beisammen ist. Wir mussten uns alle noch einmal von unserem Knochenflicker untersuchen lassen.«
»Ist Brunelli auch da?«
»Er kommt morgen. Du wirst ihm nicht entwischen.«
Brandt lacht etwas gezwungen. Als er mit Dengler das neue Quartier im Dachgeschoß bezieht und die Freunde gegangen sind, setzt sich Brandt auf die Bettkante und starrt vor sich hin.
»Was ist los, Jok?«, fragt Dengler. »Hast du Angst, dass der Brunelli dich nicht mitmachen lässt?«
Brandt zündet sich eine Zigarette an, schnippt das Streichholz aus und stößt den Rauch durch die Zähne.
»Quatsch. Ich mache mit. Ich fühle mich sauwohl. Das wird Brunelli auch in den Untersuchungsbefund eintragen müssen.«
Sie gehen zu Bett. Dengler dreht sich sofort der Wand zu und schläft ein. Brandt liegt noch lange wach. Er muss an den brennenden Omnibus denken. Ein böses Omen? Soll man sich von dem Unternehmen distanzieren? Aber nein. Da sind die alten Kameraden. Der Amadeo macht mit, der Marzi! Man kann sie doch nicht allein losgehen lassen!
Brandt betastet unter der Wolldecke seine Narben. Dicht neben der linken Achselhöhle ist ein Loch, das die Kugel des britischen MGs gerissen hat. Weiter unten, in der rechten Hüfte, zieht sich noch eine lange Narbe am Leib entlang. Auch eine MG-Kugel, die den Bauch hätte treffen können, aber nur das Hüftfleisch aufriss. Am Schenkel noch zwei Narben von Durchschüssen. Am Rücken die Spuren von Granatsplittern. Verdammt, verdammt, es ging manchmal um ein Haar! Es wird auch diesmal wieder gut gehen. Man ist ja schließlich kein Neuling mehr, man hat jahrelang den Tod vor Augen gehabt und fürchtet ihn nicht mehr.
Brandt liegt still und hört die festen Atemzüge des schlafenden Kameraden. Durch das offene Fenster strömt die kühle Nachtluft herein, der Geruch blühender Büsche und der salzige Geschmack des nahen Meeres. Bilder tauchen auf und ziehen vorüber. Brandt sieht sich als kleinen Jungen, daheim, in Berlin-Dahlem. Die Mutter steht am Fenster und schaut in den Garten. »Jochen, setze dich nicht auf die kalte Erde! Du verkühlst dich!« Oder draußen am Wannsee, als Jochen zum Landungssteg schwimmt: »Jochen! Komm zurück! Das Wasser ist tief. Komm sofort her!« – Die gute Mutter. Jetzt sitzt sie allein in Berlin. »Wann kommst du wieder einmal heim, mein Junge?«, schreibt sie in ihrem letzten Brief. Ja, wann? Ist es nicht Verrat, diese alte Frau um die Freude des Wiedersehens zu bringen? Ist es nicht Frevel, sich an Aufgaben heranzudrängen, die der alten Frau in Berlin nicht gesagt werden – nie gesagt wurden? Warum belüge ich Mutter? Sie wähnt mich bei einem harmlosen Kommando. Sie ahnt nicht, was ich mache.
Brandt schnauft wie ein Ackergaul, der einen Pflug durch steinigen Boden zieht. Warum kommt man nicht mehr los von diesem Verein? fragt er sich. Warum habe ich kein Mädel, keine Frau? Bin ich nur dazu da, um mit dem Tod im Gummisack durchs dunkle Hafenwasser zu schwimmen und die Hölle heraufzubeschwören? Warum beteilige ich mich an diesem schmutzigsten Geschäft des Krieges, auf das, so man dabei ertappt wird, die Sühne an der Erschießungsmauer folgt?
Brandt findet keine richtige Antwort auf seine Frage. Ihn widert seine Arbeit an, er hasst sie, aber er kann sich nicht von ihr losreißen. Da sind die Kameraden. Prächtige Burschen, auf die man sich verlassen kann, die ihr Leben hinopfern und bedenkenlos für den Freund in die Bresche springen. Da ist das Wort »Pflicht«, das Wort »Kameradschaft«! Und da ist schließlich die Heimat, für die man alles tut und sich die Hände beschmutzt. Nein, nein, man kann nicht mehr zurück! Man ist an die Aufgabe gebunden. Deutschlands schwerste Stunde beginnt zu schlagen. Das weiß Brandt, und deshalb wird er sich gegen ein Untauglichkeitsurteil des Dr. Brunelli sträuben.
Am nächsten Morgen stellt Brandt fest, dass sie ihrer elf in der Villa Flora Quartier genommen haben. Sechs Männer gehören dem italienischen Geheimdienst an, drei der »Decima«, dazu Dengler und er selbst. Brunelli ist nicht da, wird erst am Nachmittag erwartet.
Der Morgen vergeht rasch; die Freunde sitzen beisammen und wärmen alte Kampferlebnisse auf. Dann ruft die Ordonnanz zum Mittagessen. Gutes Essen. Man merkt an der Speisenfolge noch nicht, dass seit fünf Jahren Krieg ist, und in den Städten der Hunger und die Not durch die Straßen und Gassen schleichen.
Das Mittagessen ist beendet. Brandt will einen