»Frau Sander, das ist ja eine schöne Überraschung. Sie sind endlich wieder da!« Die Freude strahlte aus seinen Augen wie die Sonne persönlich. Als Clemens näherkam, glätteten sich die Lachfalten aber wieder. »Was ist denn mit Ihrem Gesicht passiert?«
Andrea hielt die Luft an. Unmöglich, ihm die Wahrheit zu sagen.
»Ich …. mich … mir …«, stammelte sie, als ihr glücklicherweise die Frage ihres Chefs wieder in den Sinn kam. »Ich hatte einen Zusammenstoß mit einem Wespennest.«
»Sie Ärmste.« Clemens Kremlings Mitgefühl war echt. »Das muss ja schrecklich weh tun.«
»Zum Glück arbeiten wir ja in einer Klinik. Da gibt es Ärzte und Schmerzmittel im Überfluss.« Was redete sie denn da? Und dann erst ihr Lachen! Am liebsten hätte sich Andrea unter dem Tisch versteckt.
Zum Glück schien Clemens nichts zu bemerken.
»Zumindest haben Sie Ihren Humor nicht verloren.« Er lachte und hielte eine Mappe hoch. »Das hier ist die Akte Gerda Kraft. Dr. Norden hat mich darum gebeten, mir Gedanken zu machen. Die Vorschläge bezüglich der Reha-Maßnahmen liegen bei. Er soll sich bitte mit mir in Verbindung setzen. Dann können wir alles weiter besprechen.«
»Natürlich.« Andrea Sander nickte abwesend und legte die Akte zur Seite.
Clemens hätte eigentlich gehen können. Warum nur stand er immer noch vor ihrem Schreibtisch und bewegte sich keinen Millimeter?
»Zu dumm, dass Ihnen so etwas ausgerechnet im Urlaub passiert«, stellte er nach einer Weile fest.
»Na ja, das kann man sich nicht aussuchen.« Andrea Sander betete, dass ihre Stimme sie nicht verriet.
»Sie hätten sich krankschreiben lassen können.«
»Um allein zu Hause herumzusitzen und über mein schlimmes Schicksal nachzudenken?« Sie schüttelte den Kopf, dass ihre Sonnenbrille von der Nase rutschte. Schnell schob sie sie zurück an ihren Platz. »Nein, das ist nichts für mich. Da gehe ich lieber arbeiten. Das lenkt ab.«
»Weise Worte aus dem Mund einer schönen Frau.« Clemens griff nach ihrer Hand und zog sie an die Lippen.
Wie oft hatte Andrea von so etwas geträumt! Doch es war wie verhext. Jetzt, da ihr Traum Wirklichkeit wurde, konnte sie sich nichts Schlimmeres vorstellen, als dass er ihr zu nahe kam.
»Sie machen sich lustig über mich.« Schnell zog sie die Hand zurück.
»So denken Sie über mich?« Clemens machte keinen Hehl aus seiner Fassungslosigkeit.
»Nein, nein, natürlich nicht. Es ist nur … es ist … ich fühle mich so schrecklich hässlich«, jammerte Andrea und hatte das Gefühl, mit jedem Wort alles nur noch schlimmer zu machen. Am besten, sie hielt für den Rest des Tages den Mund. Um den Tränen keine Macht zu geben, starrte sie auf den Brief, der vor ihr auf dem Tisch lag. So bemerkte sie nicht, dass Clemens Kremling amüsiert lächelte.
»Einen schönen Menschen entstellt nichts. So sagt man doch, oder? Und ich komme so oft wieder und sage Ihnen das, bis Sie es selbst glauben.«
Als Andrea wieder hochblickte, war der Platz vor dem Schreibtisch leer. Im ersten Moment fühlte sie sich, als hätte sie einen viel zu warmen Mantel ausgezogen. Doch die Erleichterung währte nur kurz.
»Das war DIE Chance, auf die du so lange gewartet hast«, schalt sie sich selbst. »Und was tust du, dumme Pute? Du vermasselst alles und lügst ihn obendrein noch an.« Konnte es noch schlimmer kommen?
*
Das EKG piepte gleichmäßig. Einem Blasebalg gleich pumpte das Beatmungsgerät durch einen Tubus Luft in die Lunge des kleinen Patienten auf dem Operationstisch. Die Anästhesistin beantwortete die stumme Frage der Kinderärztin mit einem Nicken. Fee beugte sich wieder über das Operationsfeld. Ihr Blick streifte Lammers’ Hände. Künstlerhände, ging es ihr durch den Sinn. Ein Künstler war er tatsächlich. Leider nur auf seinem Spezialgebiet, der Kinderchirurgie. Ansonsten ließ er jede Eigenschaft vermissen, die man einem Künstler zuschrieb. Sensibilität, Fantasie, Neugier, Leidenschaft … All das waren böhmische Dörfer für den ungeliebten Kollegen, der nichts anderes im Sinn hatte, als ihr ihren Platz als Chefin der Pädiatrie streitig zu machen.
Zu Fees Leidwesen hatte sich an diesem Nachmittag kein anderer Arzt für die Operationsassistenz gefunden. Einen kurzen Moment hatte sie an Sabotage gedacht, diesen Gedanken aber schnell wieder aus ihrem Kopf verbannt. An der Behnisch-Klinik arbeitete ein Team aus Ärzten und Schwestern Hand in Hand, um die besten Ergebnisse für die Patienten zu erzielen. Keine Feinde, wie Volker Lammers sie immer wieder vermuten ließ. Wenn sie nur lange genug dagegen hielt, würde er irgendwann klein beigeben. Davon war Felicitas Norden zutiefst überzeugt. Selbst, wenn diese Überzeugung manchmal wankte. Wie in diesem Moment.
»Warum behandeln Sie den Bruch eigentlich nicht konservativ?«, fragte er in ihre Gedanken hinein.
Felicitas umklammerte die Pinzette, die zuerst angenehm kühl in ihren Fingern gelegen hatte. Inzwischen hatte das Metall fast Körpertemperatur angenommen. Wenn Lammers sie weiter ärgerte, würde es demnächst glühen.
»Sie sehen doch selbst, dass die Bruchstücke des Olekranoms verschoben sind. Allein diese Tatsache schließt eine Heilung ohne Operation aus. Oder verfügen Sie über Geheimwissen, das mir bislang verborgen geblieben ist?«
»Das mit Sicherheit.« Lammers’ Gesichtsmaske blähte sich, als er lachte. »Aber ich finde, Sie machen das sehr gut. Diese Zuggurte aus Kirschnerdraht. Die haben Sie sehr schön an den gebrochenen Enden fixiert. Trotzdem sollten Sie nach der OP ein MRT anfertigen lassen.«
»Vielen Dank für den Hinweis«, presste Felicitas durch die Lippen. Warum nur erlaubte sie es ihm immer wieder zu bewirken, sich in seiner Gegenwart wie ein Schulmädchen zu fühlen? Sogar ihr ehemaliger Dozent Steinhilber hatte sie durchschaut. »Aber der Patient ist bereits angemeldet. Die Bewegungseinschränkung von Julius’ Arm hat nämlich mit der Fraktur nichts zu tun.«
»Ah, deshalb also das große Blutbild.« Lammers’ Augen über der Maske wurden kugelrund. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass er sich über seine Chefin lustig machte. »Sie vermuten eine neurologische Einschränkung?«
»Bin ich Ärztin oder Wahrsagerin?« Fee bat die Schwester, ihr den Schweiß von der Stirn zu tupfen. Das Operationsbesteck klirrte, als sie es in die Nierenschale warf. »Machen Sie bitte fertig, Lammers!« Sie nickte in Richtung der Wunde, die, umgeben von grünen Tüchern, unter der Operationslampe leuchtete. »Ich muss noch meine Glaskugel polieren.« Ohne eine Antwort abzuwarten, rauschte sie aus dem Operationssaal.
Hier und da war ein unterdrücktes Kichern, ein Schnauben hinter den Masken zu hören. Dr. Lammers schickte einen furchterregenden Blick in die Runde. Schlagartig wurde es still im OP. Nur das Schnaufen und Piepen der Überwachungsgeräte war zu hören, als sich Volker Nadel und Faden reichen ließ.
*
Schwerfällig ließ sich Oskar Roeckl auf die Bank am Ufer des Kleinhesseloher Sees fallen. Es war ein schöner, aber kühler Tag im Herbst. In einer Art Torschlusspanik zog es die Menschen noch einmal nach draußen, bevor der November mit seinen Herbststürmen, Schauern und Gewittern über die Lande zog. Vom nahen Biergarten wehten Stimmen und Gelächter herüber. Kinder kreischten am Spielplatz. Ein Schwan dümpelte auf dem Wasser, ein Jogger in engen Hosen zog seine Runden auf dem Kiesweg.
Als sich kurz darauf eine ältere Dame zu Oskar auf die Bank setzte, dachte er wieder an Lenni, die jetzt wahrscheinlich frisch operiert war. Der Professor an ihrem Bett hielt vermutlich ihre Hand und die beiden raunten sich Zärtlichkeiten zu. Oskar klammerte sich am splittrigen Holz der Bank fest. So hatte er sich das nicht vorgestellt, als er Lenni vor ein paar Jahren begegnet war. Nie würde er den Zusammenstoß im Klinikkiosk und Lennis