Inhalt
Der Traum von der ewigen Jugend
Wir dürfen uns nicht verlieren!
»Ihre Handschrift ist so unterirdisch, da brauche ich ja eine Grubenlampe zum Lesen«, schimpfte Dr. Lammers. Gemeinsam mit seiner Kollegin und Vorgesetzten Dr. Felicitas Norden eilte er den Flur entlang Richtung Notaufnahme. Fees Notizen raschelten in seiner Hand.
»Dann lassen Sie es eben bleiben.« Sie riss ihm das Blatt aus der Hand. »Ich übernehme den Patienten.«
Lammers blieb stehen und sah ihrem flatternden Kittel nach.
»Meine Güte! Dass Frauen immer so empfindlich sein müssen.«
Ein Glück, dass Felicitas ihn nicht mehr hörte. Dazu hätte sie einiges zu sagen gehabt. Die Wortfetzen wehten hinter ihr her, als sie in der Notaufnahme ankam. Einen Wimpernschlag später schnappte sie nach Luft.
»Dr. Steinhilber.« Schlagartig hatte sie wieder den Geruch des Hörsaals in der Nase. Die Mischung aus altem Holz, PVC und muffiger Heizungsluft war im Winter fast heimelig gewesen. An heißen Sommertagen hatten sich die Räume allerdings viel zu oft in reine Folterkammern verwandelt. Ein Glück, dass es inzwischen Klimaanlagen gab, die auch in der Behnisch-Klinik lautlos ihren Dienst taten. »Das ist ja eine Überraschung. Sie haben sich kaum verändert.« Einem jungen Erwachsenen hätte sie mit diesen Worten die Schamröte ins Gesicht und eine ordentliche Wut in den Bauch getrieben. Anders sah es bei den älteren Herrschaften aus.
Trotzdem reagierte der Mann nicht sofort. Er raunte dem Jungen auf der Liege ein paar Worte zu. Erst dann richtete er sich auf und musterte die Frau, die ihn angesprochen hatte. Endlich erreichte sein Lächeln die Augen und kräuselte die feine Haut.
»Felicitas Cornelius. Ich glaube es nicht.«
»So lange ist das her? Ich heiße seit einer gefühlten Ewigkeit Norden.«
Der Rettungsarzt Erwin Huber trat zu ihnen.
»Das ist Julius Steinhilber.« Er deutete auf den Jungen. »Er ist vierzehn Jahre alt und klagt seit einem Sturz vom Roller …«
»Scooter heißt das«, korrigierte Julius den Kollegen.
Erwin schnitt eine Grimasse.
»Tut mir leid. Also, noch einmal von vorn. Der junge Mann ist mit seinem Scooter auf der Halfpipe gestürzt und klagt seitdem über starke Schmerzen im linken Arm.«
»Da dachte ich mir, ich rufe lieber den Notarzt«, erklärte Emil Steinhilber. »Es könnte ja sein, dass er sich weitere Verletzungen zugezogen hat.«
Fee bedankte sich bei dem Kollegen Huber, schenkte Dr. Steinhilber ein Lächeln und beugte sich über Julius.
»Wie du gerade beeindruckend unter Beweis gestellt hast, kannst du uns sehr gut hören.«
»Ja, klar.«
»Weißt du auch, wo du bist?«
»Behnisch-Klinik. Das habe ich im Funk gehört. Total cool, in so einem Krankenwagen mitzufahren. Ich habe meinen Freunden schon Fotos geschickt.« Er deutete auf das Handy, das auf seinem Bauch lag.
»Hoffentlich nehmen sich deine Freunde kein Beispiel an dir und stürmen die Notaufnahme.« Fee hob die Decke und warf einen Blick auf den verletzten Arm.
»Schockraum zwei«, sagte sie zu dem Pfleger, der zu ihnen getreten war. »Ich komme sofort nach.« Sie sah dem Krankentransport kurz nach, bevor sie sich zu ihrem ehemaligen Dozenten umdrehte.
»Wollen Sie Ihren …« Mitten im Satz hielt sie inne. Nur jetzt nichts falsch machen, »… Sohn …?«
Emil Steinhilbers Lachen unterbrach sie. Also doch ein Fehler!
»Für wen halten Sie mich, verehrte Fee? Das hier ist mein Enkelsohn. Seit dem Unfalltod seiner Eltern lebt er bei mir.«
»Oh, das tut mir leid.«
»Schon gut.« Emil winkte ab. »Das ist schon zwölf Jahre her, und das alte Sprichwort hat wieder einmal recht behalten: Die Zeit heilt alle Wunden.« Seine plötzliche Heiserkeit strafte ihn Lügen. Schnell wechselte er das Thema. »Biochemie ausgezeichnet, Molekularbiologie ungenügend. Das habe ich nie verstanden.«
»Sie erinnern sich noch an meine Leistungen?« Fee wollte eben fortfahren, als der Kollege Lammers wie zufällig vorbeischlenderte.
»Darf ich einen Kaffee vorbeibringen? Da plaudert es sich doch gleich viel besser.«
Felicitas ballte die Hände zu Fäusten. Irgendwann würde sie ihm den Hals umdrehen! Sie zwang sich ein Lächeln auf die Lippen und winkte Dr. Steinhilber mit sich.
»Gehen wir zu Julius.«
*
»Haben Sie Oskar erreicht? Und wer kümmert sich denn jetzt um den Klinikkiosk?« Die ehemalige Haushälterin der Familie Norden lag im Klinikbett. Auf dem Weg in den Operationsbereich flogen die Bilder an den Wänden als bunte Flecken an ihr vorbei. »Sollen wir das mit der Operation nicht doch lieber lassen? So schlecht sehe ich doch gar nicht.«
Dr. Daniel Norden begleitete den Transport. Er gab der Schwester ein Zeichen. Sie stoppte das Bett.
»Ach ja?« Seine Stimme war eine einzige Herausforderung. »Dann können Sie mir ja sicher sagen, was Sie auf diesem Foto sehen.«
Lenni sah hinüber zu dem psychedelischen Muster in verschiedensten Grüntönen. Es erinnerte sie an das Chamäleon, das im Behandlungszimmer des Professors für Augenheilkunde hing. Vielleicht …
»Hätten Sie Lust, dort Urlaub zu machen?«, fragte Daniel weiter.
Lenni schluckte. Also doch kein Chamäleon.
»Mir ist eine Fliege ins Auge geflogen«, jammerte sie und rieb sich demonstrativ die Augen, bis sie tränten.
Daniel Norden lachte und gab der Schwester ein weiteres Zeichen.
»Schon gut. Ich werde den Kammerjäger kommen lassen. Aber um Ihre Fragen zu beantworten: Von Oskar habe ich leider noch nichts gehört. Soweit ich weiß, ist er heute Nacht auch nicht nach Hause gekommen. Dafür hat Anneka versprochen, den Kiosk zu übernehmen, bis Sie zurück sind. Sie hat noch ein paar Tage Zeit, bis ihr Studium beginnt, und ist froh, sich ein Taschengeld zu verdienen.«
»Wenigstens etwas«, murmelte Lenni.
So kleinlaut hatte Dr. Norden seine ehemalige Haushälterin in all den Jahren nicht erlebt. Doch für Reue war im Augenblick kein Platz. Leise surrend schoben sich die Türen zum Operationsbereich auf. Wasserrauschen empfing sie. Professor Lutz stand am Waschbecken. Er warf einen Blick über die Schulter.
»Da sind Sie ja schon!« Ein Handtuch in den Händen trat er ans Bett. »Wie fühlen Sie sich, liebste Lenni?«
Mit einem Handkuss und einem Einfühlungsvermögen, das seinesgleichen suchte, hatte er ihr Herz tags zuvor noch zum Flattern gebracht. Dummerweise war Lennis Lebensgefährte Oskar von ihren Schwärmereien alles andere als amüsiert gewesen und hatte das Weite gesucht.
»Ich bin nicht Ihre liebste Lenni«, fauchte sie den Professor an.
Dank seiner langjährigen Erfahrungen mit ängstlichen Patienten war Lutz Krugs Lächeln unerschütterlich.