Zuhause ging er dann ins Schlafzimmer, von denen es in ihrem Haus drei gab. Eins für die Jungen, eins für die Mädchen und eins für Mr und Mrs Brown. In den Jungen- und Mädchenzimmern schliefen die jüngeren Kinder in den Betten und die älteren darunter. Rupert teilte sich den Boden unter einem Bett mit John und Dirk. Nach der Schule legte er sich oft unter das Jungenbett und sammelte die nötige Energie, um sich zu dem Abendessen aus Haferbrei die Treppe hinunterzuschleppen. Die Mahlzeit verlieh ihm dann gerade genügend Kraft, um wieder hochzugehen und einzuschlafen. Das war sein Leben. Ein Leben, das von der Hoffnung geprägt war, sich nicht zum Gespött zu machen, indem er in Ohnmacht fiel.
Dann geschah es eines Tages doch. Er fiel tatsächlich in Ohnmacht, und zwar an einem Tag mit enorm viel Tiefschnee.
Wie üblich stand Rupert auf und machte sich auf den Weg zur Schule. Um dorthin zu gelangen, musste er von seinem Haus im Wohngebiet der Ärmsten der Armen am Stadtrand an den Schienen entlang und am Kraftwerk vorbeigehen. Dort standen nur verfallene Häuser. Weiter ging es durch das Viertel, deren arme, aber doch stolze Bewohner sich trotz ihres geringen Einkommens um ordentliche Rasenflächen und gekehrte Treppen bemühten. Als Nächstes passierte Rupert die Häuser der Mittelschicht mit sauber geschnittenen Hecken, Gärten und Fensterläden, hinter denen er sich nur glückliche, wohlgenährte Menschen vorstellte, und schließlich die prächtigeren Häuser der Reichen. Und kurz bevor er die Schule erreichte, ging er an den Villen der Superreichen vorbei.
Als Rupert sich auf den Weg machte, wunderte er sich, dass seine Mutter an diesem Morgen das karge, aus einem Löffel Haferbrei pro Person bestehende Frühstück nicht bereitgestellt hatte. Außerdem fiel ihm auf, dass noch niemand vor ihm Fußspuren im Schnee hinterlassen hatte. Er musste die Knie hochziehen und den tiefen, schweren, nassen Schnee durchqueren. Das war besonders lästig, weil er keine Stiefel, sondern nur Turnschuhe besaß, doch er wagte es nicht, auf der Straße zu laufen. Sie wurden nie gut geräumt, sodass die Autos andauernd auf der glatten Fahrbahn zusammenstießen. Da konnte man als Junge schnell überfahren werden, obwohl der Verkehr an diesem Tag fast zum Erliegen gekommen war, was auch höchst seltsam war.
Rupert dachte daran, aufzugeben und die Schule zu schwänzen, doch er wollte als Erwachsener etwas Besonderes werden. Was, wusste er noch nicht, aber ihm war klar, dass man ohne Schulabschluss nichts Besonderes zustandebrachte. Deshalb zwang er sich weiterzugehen und sagte sich beständig Man muss es nur wollen, es ist alles eine Frage des Willens. Als er sich unvermittelt hinsetzte, stürzte eine Schneewehe über ihm ein und der nasse kalte Schnee färbte seinen Nacken rot, weil er weder Schal noch Mütze hatte. Und auch keinen Mantel. Es musste reichen, die drei Hemden, die er besaß, übereinanderzuziehen, und darüber ein löchriges Sweatshirt. Das klappte ganz gut, bis es richtig kalt wurde. Dann hatte er nicht nur ständig Hunger, sondern fror auch noch ununterbrochen. Als er nun wieder aufstand, hatte er schon fast Frostbeulen und war sich wirklich nicht sicher, ob er noch einen einzigen Schritt weitergehen konnte. Doch die herrliche Aussicht darauf, gleich in der geheizten Schule sitzen zu können, trieb ihn weiter. Er musste nur noch um die Ecke biegen.
Doch hinter dieser Ecke waren keine Autos, keine Kinder, die sich eine Schneeballschlacht lieferten, kein Licht, kein Bus. Rupert sah zu seinem Entsetzen nur ein leeres Gebäude vor sich.
Er wusste sofort, dass er etwas falsch gemacht hatte.
Entweder ist Wochenende, dachte er, oder die Lehrer sind auf einer Fortbildung oder es ist Feiertag. Die Morgen erlebte Rupert so verschwommen in seiner ewigen Müdigkeit, dem ewigen Hunger, dass er zwar das Ausbleiben des Haferbreis bemerkt hatte, aber nicht, dass sonst niemand aufgestanden war. Tja, es half alles nichts, er musste umkehren und versuchen, weder in Ohnmacht zu fallen noch zu erfrieren. Alles eine Frage des Willens, sagte er sich erneut. Zumindest konnte er in seinen eigenen Fußstapfen zurücklaufen und musste den frisch gefallenen, reinen Schnee nicht mit seinen Turnschuhen entweihen. Das sparte ein wenig Energie, immerhin das. Rupert machte sich auf den Rückweg.
Zunächst kam er durchs Viertel der Superreichen mit seinen sieben Villen. Sie standen auf riesigen Grundstücken mit hohen Zäunen, Hecken oder Toren, die sogar Katzendiebe wie die Johns und Dirks dieser Welt abhielten. Hier waren nicht nur die Superreichen, sondern auch ihre Katzen in Sicherheit.
Als Rupert gerade eins dieser Tore passierte, schwang es auf, um ein Auto durchzulassen. Das Tor schwenkte direkt auf Rupert zu und eine verschnörkelte Eisenverzierung hakte sich in einem Loch seines Sweatshirts ein und hievte ihn hoch. In diesem Augenblick fiel Rupert in Ohnmacht. Das Tor schwang noch ein Stück weiter auf, sodass sein bewusstloser, daran hängender Körper gegen die Eisenstangen schlug. Bäng, bäng, bäng.
Rupert erwachte aus seiner Ohnmacht mit dem Gedanken, dass er zu allem Überfluss auch noch blaue Flecken bekommen würde, als das Auto durch das Tor fuhr und stehenblieb. Eine Frau steckte den Kopf aus dem Fenster und sah ihn unverwandt an.
«Baumelt da jemand am Tor, Billingston?», fragte sie.
«Ich glaube, Sie haben recht, Mrs Cook», antwortete Billingston, der Fahrer.
«Dann drücken Sie den Elektroschockknopf, dafür ist er schließlich da. Um ungeladene Gäste abzuschrecken.»
Und schon durchfuhr ein starker Stromstoß Ruperts kleinen, leicht ramponierten Körper. Er zuckte so heftig zusammen, dass er erneut mit Wucht gegen das Eisentor knallte, das sich kurz darauf schloss. Der Wagen fuhr mit Mrs Cook weiter, die froh war, dass damit solchen Streichen ein Riegel vorgeschoben worden war. Sicherheitshalber betätigte Billingston den Elektroschockknopf am Tor ein zweites Mal, bevor er davonfuhr. Diesmal wurde Rupert in die Luft katapultiert, flog über die vier Meter hohe Hecke und landete auf der falschen Seite. Also auf der Villenseite und dem verschneiten Rasen der superreichen Bewohner, genau da, wo ihn niemand haben wollte. Rupert rechnete jeden Moment damit, den klebrigen triefenden Speichel bösartiger Wachhunde auf seinem Körper zu spüren, und gleich darauf ihre scharfen Reißzähne. Wenn man sich auf das Schlimmste einstellte, das einem passieren konnte, das Schlimmste, das man sich überhaupt vorstellen konnte, geschah seiner Erfahrung nach normalerweise genau das. Deshalb wartete er geduldig darauf, gefressen zu werden. Seine Energie reichte nicht einmal mehr dafür aus, sich zu bewegen, geschweige denn zu kämpfen. Die Minuten vergingen. Kein Hund fiel über ihn her. Auch keine Katze. Die Leute hatten für Tiere wohl nicht viel übrig.
Rupert wollte sich gerade aufrappeln, als jemand sagte: «Wie bist du denn hierhergekommen?»
Das war Turgid Rivers, der reichste Junge in der ganzen Schule. Er war in der sechsten Klasse, eine über Rupert.
«Und du wohnst anscheinend hier», sagte Rupert schwach.
Turgid nickte.
«Schönes Haus», sagte Rupert.
Und fiel erneut in Ohnmacht.
EINE EINLADUNG ZUM ABENDESSEN
Als Rupert diesmal wach wurde, lag er vor einem großen warmen Kamin. Über ihm schwebte Turgids schmales neugieriges Gesicht.
Zunächst wähnte er sich im Wohnzimmer der Rivers – der Teppich war so üppig und flauschig, der Kamin so breit, laut prasselte das Feuer –, doch während er allmählich zu sich kam und den Kopf nach links und rechts drehte, begriff er, dass er sich in einem normalen Zimmer befand. In Turgids Zimmer, dem Spielzeug nach zu urteilen.
«Du meine Güte», sagte Turgid. «An Weihnachten ist immer was los. Man weiß nie, was es gibt. Aber mit einem toten Mitschüler auf dem Rasen habe ich nun doch nicht gerechnet. Ich habe dich hier reingeschleppt. Schwer bist du nicht gerade.»
«Aber tot auch nicht», sagte Rupert.
«Lebendig