Keuchend blieb er schließlich stehen und blickte ängstlich zurück. Niemand folgte ihm. Trotzdem ließ die Furcht ihn nicht mehr los. Er dachte an die Märchen, die seine Großmutter ihm vorgelesen hatte. Ob es hier einen bösen Wolf gab? Was hatte ihm sein Vati über die Wölfe erzählt? Anselm bemühte sich, die Stimme seines Vaters heraufzubeschwören. »Ach, Unsinn«, hatte er gesagt, als Anselm ihn bei einem Ausflug gefragt hatte, ob sie einen Wolf treffen würden. »In Deutschland gibt es keine Wölfe mehr. Höchstens im Zoo. Wenn du willst, fahren wir einmal zu einem Zoo und schauen uns die Wölfe an.«
Damals hätte es Anselm nichts ausgemacht, im Wald einem Wolf zu begegnen. Wenn sein Vati bei ihm war, fühlte er sich sicher und hatte vor nichts Furcht. Aber jetzt war sein Vati leider nicht bei ihm, und er fürchtete sich sehr. Ob das knackende Geräusch vielleicht von einem Hasen oder von einem Reh gekommen war? Oder sollte eine Hexe es verursacht haben? Großmutti hatte ihm erklärt, dass Hexen nur im Märchen vorkämen. Aber stimmte das wirklich?
Während Anselm diese Überlegungen anstellte, achtete er nicht auf den Weg. Er lief geradewegs in ein zwischen zwei Bäumen gespanntes Spinnennetz. Pfui, wie das klebte. Anselm schüttelte sich vor Abscheu und versuchte, mit den Händen die Spinnweben aus seinem Gesicht zu wischen. Aber nun konnte er die Tränen nicht länger zurückhalten. Er setzte sich ins Gras und schluchzte bitterlich.
*
Trotz des drohenden Gewitters war Anselm nicht der einzige Mensch, der sich im Wald aufhielt. Irene Wieninger hatte Billie im Tierheim besucht und im Anschluss daran einen Spaziergang unternommen.
Die dichten Wolken, die sich am Himmel zusammengebraut hatten, waren ihr nicht entgangen, aber sie hatte sich herzlich wenig darum gekümmert. Sollte es nur regnen. Das würde so richtig zu der Stimmung, in der sie sich befand, passen. Sie war zwar erst gestern beim Friseur gewesen, aber trotzdem war es ihr gleichgültig, ob ihre Haare nass wurden oder nicht. Billie war ihr Aussehen egal. Er liebte sie auch mit herunterhängenden Haarsträhnen, und was Otmar betraf, dem war ihr Aussehen ebenso egal. Aber zum Unterschied von Billie liebte er sie überhaupt nicht.
Die ersten Blitze, die am Horizont aufleuchteten, bemerkte Irene nicht, denn sie befand sich inzwischen ziemlich tief drinnen im Wald. Als aber nun ein heller Blitzstrahl aufzuckte und der dazugehörende Donner nicht lange auf sich warten ließ, erschrak sie. Ein Gewitter im Wald konnte gefährlich werden. Wenn ein Blitz in einen Baum in ihrer Nähe einschlug, konnte der Baum auf sie stürzen und sie erschlagen.
Diese Vorstellung war Irene nicht gerade angenehm. Trotzdem zuckte sie mit den Schultern. Dann hätte wenigstens ihr ganzer Kummer ein Ende. Niemand würde um sie trauern, wenn sie tot wäre. Im Gegenteil, Otmar würde sogar froh sein, dass er sie losgeworden war. Oder würde er ihren schrecklichen Tod doch bedauern? Würde es ihm vielleicht sogar leid tun, dass er sie so schlecht behandelt hatte? Möglicherweise würde er sie dann doch vermissen und sein böses Verhalten bereuen. Aber dann würde es zu spät für die Reue sein.
Dieser Gedanke veranlasste Irene, laut aufzuschluchzen. Schuldbewusst blickte sie sich um. Nein, hier war niemand. Sie brauchte sich nicht zu beherrschen. Sie konnte ihrem Schmerz freien Lauf lassen. Die Tränen rannen ihr auch schon über die Wangen und vermischten sich mit den ersten Regentropfen, die vom Himmel fielen.
*
Als Anselm das Geräusch von näherkommenden Schritten hörte, wollte er zuerst aufspringen und die Flucht ergreifen. Doch er beherrschte sich diesmal. Er kroch bloß hinter einen Busch und spähte vorsichtig hervor. Zwischen den Bäumen erblickte er die Gestalt einer Frau, die langsam auf ihn zukam. Da sie immer wieder von Bäumen verdeckt wurde, gelang es ihm nicht, Einzelheiten zu erkennen. Vielleicht war es Schwester Regine, die ihn suchte. Sollte er rufen? Wenn es aber vielleicht doch die böse Hexe war?
Anselm schwieg und rührte sich nicht. Er wagte kaum zu atmen. Als Irene zwischen den Bäumen hervortrat und auf die kleine Lichtung kam, merkte er, dass die Frau zwar nicht Schwester Regine, aber ebenfalls jung und hübsch war. Also konnte es sich nicht um eine Hexe handeln, denn die waren bekanntlich alt und hässlich, hatten einen Buckel, eine lange Nase und ein spitzes Kinn. Außerdem weinte die fremde Frau. Wahrscheinlich hatte sie sich auch im Wald verirrt, genau wie er, und fand nun nicht mehr nach Hause.
Anselm erhob sich, kam hinter seinem Gebüsch hervor und fragte: »Haben Sie sich auch im Wald verirrt? Oder sind Sie womöglich doch die böse Hexe?«
Irene blieb überrascht stehen und betrachtete verwirrt den kleinen Jungen, der so plötzlich vor ihr aufgetaucht war. Träumte sie? Das Kind hier glich in so auffallender Weise ihrem jahrelang gehegten Traumbild, dass sie an der Realität seiner Erscheinung zweifelte. Nur hatte sie sich immer einen sauberen, frisch gewaschenen und gekämmten Jungen vorgestellt, während dieser hier ein verschmiertes Gesicht, Spinnweben in den Haaren und schmutzige Knie aufwies. Diese Tatsachen überzeugten Irene, dass sie kein Trugbild vor sich hatte.
»Was tust du denn hier?«, fragte sie schließlich nicht gerade geistreich.
Anselm zögerte. Die fremde Frau sah durchaus vertrauenerweckend aus. Auf keinen Fall schien sie die Absicht zu haben, ihn in ihr Knusperhäuschen schleppen zu wollen. Er entschloss sich zu einer vorsichtigen Antwort. »Ich habe Heidelbeeren gepflückt. Und dann habe ich einen Frosch gesehen«, sagte er.
»Bist du allein hier? Darfst du so tief in den Wald hineingehen, ohne dass dich jemand begleitet?«
Nun musste der Junge mit der Wahrheit herausrücken.
»Zuerst bin ich mit Schwester Regine und Heidi beisammen gewesen. Dann habe ich den braunen Frosch verfolgt, und auf einmal war ich ganz allein.«
»Findest du jetzt nicht mehr nach Hause?«, fragte Irene scharfsinnig.
Anselm schüttelte stumm den Kopf.
»Na, dann ist es ein Glück, dass ich dich getroffen habe. Ich werde dich heimbringen. Wo wohnst du?«
»Ich wohne in der Breitegasse Nummer drei in Maibach. Aber jetzt ist meine Mami verreist, und ich wohne deshalb in Sophienlust.«
»Sophienlust? Ach ja, das ist das Kinderheim in Wildmoos. Ich habe davon gehört, aber ich war noch nie dort.«
Irene überlegte und kam schnell zu einem Entschluss. »Ich weiß nicht genau, wo das Kinderheim ist. Das klügste wäre, wenn ich mit dir nach Bachenau zum Haus von Dr. von Lehn ginge. Von dort aus können wir in Sophienlust anrufen, damit dich jemand abholt.«
»Ja, fein!« Anselm war einverstanden. »Gehen wir zu Tante Andrea und zum Tierheim Waldi und Co.«
»Du kennst es?«
»Ja freilich. Ich war mit Tante Isi und Schwester Regine und den anderen schon ein paarmal dort.«
Die Tatsache, dass die junge Frau den Tierarzt Dr. von Lehn erwähnt hatte, ließ Anselm Vertrauen zu Irene fassen. Willig ließ er sich von ihr bei der Hand nehmen.
Für Irene war es ein eigentümliches Gefühl, als sie die kleine Kinderhand, die sich in ihre eigene Hand schmiegte, spürte.
»Wie heißen Sie«, fragte Anselm.
»Irene Wieninger.«
»Irene? Das ist ein hübscher Name. Er gefällt mir. I-r-e-n-e.« Anselm kostete den Klang voll aus.
Irene lächelte. Sie fühlte sich irgendwie geschmeichelt. Mit einer solchen Begeisterung hatte schon lange keiner mehr ihren Namen ausgesprochen.«
»Sag du und Tante Irene zu mir«, schlug sie dem Jungen vor.«
»Ja, Tante Irene.«
»Gut. Nun musst du mir aber auch deinen Namen verraten.«
»Ich heiße Anselm Nissel.«
»Das ist ebenfalls ein sehr schöner Name.«
Nachdem die beiden diese gegenseitigen Komplimente ausgetauscht hatten, kamen sie zu dem Waldweg, von dem Irene vorhin abgezweigt war. Der