Schauer der Vorwelt. Tobias Bachmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tobias Bachmann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783969447406
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meine Messdaten gefälscht hatte. Es war alles nur eine geniale Verschwörung. Wer einen Grund dazu gehabt hätte, ein solches Komplott aus skrupellosen Täuschungen zu kreieren? Woher sollte ich das wissen? Was wusste ich denn schon vom Jenseits? Hier fragte man wohl besser einen Gott oder einen Priester. Ich konnte lediglich die Ewigkeit beschreiben:

      Ich selbst war es, der da auf diesem Sofa saß. Eben jenes Sofa, auf dem ich just in diesem Augenblick sitze. Und ich, der mich dort sitzen sah, ich war Sie und hörte mir zu.

      »Verstehen Sie denn nicht?«, schrie ich mich selbst an. »Ich durchlebte immer wieder dieselben Ereignisse, und wenn ich sie heil überstanden hatte, war ich auch noch dazu gezwungen, mir diese selbst zu erzählen. Immer und immer wieder!«

      Doch bedenken Sie: Diese Anomalie des Hauses war in Wirklichkeit eine zeitliche. Und dass Zeit nicht ortsgebunden ist, wird Ihnen sicherlich bekannt sein. Die Öffnung wieder zuzumauern hatte nicht das Geringste dagegen bewirken können. Die Zeitanomalie war bereits daraus entfleucht und sie würde sich wie ein Meer giftiger Tentakel ausbreiten und sich bald über unseren gesamten Planeten erstrecken.

      Woher ich das weiß?

      Ich habe es gemessen.

      Ein sauberer Abgang

      (Liber Nominum Montuorum, 2014)

      »I`m a suicidal failure, I`ve got to get some help

      I have suicidal tendencies, but I can`t kill myself.«

      - SUICIDAL TENDENCIES: »Suicidal Failure« (1983) -

      Benno wusste, dass man das Haus sprengen würde; und das war ihm nur recht. Er wollte einen sauberen Abgang.

      Sauber in dem Sinne, dass es seinen Angehörigen erspart bleiben würde, seinen Leichnam identifizieren zu müssen.

      Schon immer hatte er viel Wert auf Sauberkeit gelegt. Die Sprengung des Hauses würde dafür sorgen, dass von ihm nichts übrig blieb.

      Eine saubere Sache.

      Das Gebäude befand sich inmitten des Industriegebietes der Stadt. Zu Fuß waren es von dort keine zwanzig Minuten zum Zentrum. Das Industriegebiet bestand neben einer Großmolkerei, einem Zementwerk und einer Firma für Solaranlagen zum größten Teil aus Lagerhallen, LKW-Fuhrunternehmen und einem bedeutenden Spielzeughersteller. Umringt wurde der Gewerbepark von wenigen Quadratkilometer unberührten Waldes, der darauf wartete, dem nächsten Firmenmonopol zu weichen. Die Immobilienagentur der Firma hatte das alte, leerstehende Herrenhaus gleich mitgekauft, und da Benno als Notar die Kaufverträge erarbeitet hatte, wusste er, dass das Haus am nächsten Morgen in Schutt und Asche liegen würde. Die Aufsichtsbehörde hatte die Sprengung für halb sechs in der Früh genehmigt.

      Noch vor sechzehn Jahren hatte darin ein gewisser Albert Denovali gelebt, der von dem altehrwürdigen Herrenhaus aus seine Firmengeschäfte abgewickelt hatte. Denovali war einer der letzten Großindustriellen der alten Schule gewesen. Er hielt sein Monopol im Bekleidungssektor, bis er herausgefunden hatte, dass seine zwölf Jahre jüngere Gattin ihn nicht nur mit einem Liebhaber hinterging, sondern auch noch großangelegte Industriespionage zu Lasten Denovalis beging. Denovali hatte kurzen Prozess gemacht und seine Frau vor die Tür gesetzt. Alle Angelegenheiten wurden testamentarisch so geregelt, dass der untreuen Dame nur noch die Kleider blieben, die sie am Leibe trug und Denovali erhängte sich im Dachgebälk seines Hauses.

      Ein würdevoller Abtritt, wie Benno befand, doch für seine Verhältnisse nicht sauber genug. Alleine die Vorstellung, dass man während des Erhängens seine Schließmuskeln nicht mehr unter Kontrolle hat, die Zunge heraushängt und der Kopf blau anläuft, gefiel ihm überhaupt nicht.

      Auch andere Möglichkeiten des Suizids war Benno durchgegangen. Alles hatte er hinterfragt und war alsbald zu dem Entschluss gekommen, dass es nicht seinem Typus entsprach, als hässliche, aufgequollene, verunstaltete Leiche aufgefunden zu werden. Daher musste er dafür Sorge tragen, dass von seinem Körper nichts übrigblieb. Nach genauer Kalkulation blieben daher nur zwei Möglichkeiten: Ein Säurebad - was jedoch aus organisatorischen Gründen ausschied - oder sein aktuelles Vorhaben: das Haus betreten, sich an der Stelle aufhalten, an der die Sprengung am zerstörerischsten wüten würde, und abwarten.

      Sah man einmal von der Warterei ab, wäre die Sache schnell vorüber. Bemerken würde Benno von seinem eigenen Tod nichts. Und es würde auch kein Fitzelchen von ihm übrigbleiben. Sein Körper würde in Millionen kleinster Teile zerfetzt, und unter Kubiktonnen Schutt und Geröll begraben werden.

      Etwas Besseres konnte es doch gar nicht geben. Die Möglichkeit auf einem pathologischen Seziertisch zu landen, war damit auch passé und das Einzige, was man finden würde, wären DNA-Spuren, sofern man überhaupt nach diesen suchen würde.

      Als er das Gebäude erreichte, war er zunächst enttäuscht. Es war das erste Mal, dass er das Grundstück persönlich betrat. Zuvor hatte er das Haus nur auf einer Fotografie gesehen, die zu Denovalis Lebzeiten geschossen worden war. Nun, nicht Mal ein Vierteljahrhundert später machte es auf Benno ein schäbiges Bild. Der Wildwuchs hatte deutlich zugenommen und verschiedenste Gräser, Moose und Flechten waren dabei, das Haus für sich zu erobern. Bäume hatten ihr Laub über die Zufahrt verstreut und überhaupt erweckte das zugewucherte Grundstück den Eindruck, als sei hier nichts mehr zu holen.

      Die Bagger und Abrissbirnen standen bereit, und könnten rein theoretisch jeden Moment mit der Arbeit beginnen. Doch sonntags wurde nicht gearbeitet. Benno hatte die ganze Nacht Zeit, es sich in dem Haus gemütlich zu machen und sich auf seinen Tod vorzubereiten. Vielleicht würde er einschlafen. Dann wäre alles noch erträglicher für ihn.

      Mühsam bestieg er die zugewucherten Stufen der Eingangsempore und blieb vor der messingbeschlagenen Tür aus dunklem Holz stehen. Grauschwarze Flechten hatten sich auf dem Türgriff gebildet. Benno vermutete eine Art Schimmelbefall.

      In seiner Aktentasche suchte er nach dem Schlüssel, und als er ihn herausgeholt hatte, führte er ihn in das verrostete Schlüsselloch ein. Zwar knirschte es verdächtig, als er das Ding herumdrehte, um die Tür zu öffnen, doch ohne Schwierigkeiten gab das Schloss nach und die Tür schwang auf. Der Muff, der ihm entgegenschlug, roch nach Staub, Fäulnis und Moder. Als hätte er das Grab eines Pharaos geöffnet.

      Benno trat über die Schwelle, hinein in diffuses Dämmerlicht, in dem er nur die vagen Konturen des Inventars erahnen konnte. Als er seine Taschenlampe einschaltete, stellte er überraschend fest, dass die Einrichtung nahezu vollständig und intakt zu sein schien. Auf der linken Seite stand eine weißlackierte Garderobe, an der sogar noch ein alter Mantel hing. Gegenüber wurde das Bild von einem mannshohen Spiegel reflektiert, der nur einen kleinen Sprung in der linken unteren Ecke aufwies.

      Verwundert ging Benno weiter. Hatte man das Haus nach Denovalis Ableben nicht leergeräumt? Wahrlich seltsam, dachte er, während er mit dem Lichtkegel seiner Taschenlampe die geschwungene Treppe, hinauf in den ersten Stock entlangfuhr. Die Treppenstiege bestand aus marmornen Stufen und wirkte noch jetzt, nach dem vermeintlichen Verfall des Anwesens, wie frisch poliert. Einzig die daumendicke Staubschicht störte den Anblick. Doch sicherlich: Zum Putzen kam hier schon lange niemand mehr vorbei. Aber dass sich nicht einmal ein paar Obdachlose dieses bequeme Domizil ausgesucht hatten oder gar eine Horde neugieriger Jugendliche sich Zutritt in das Haus verschafft hatten, verwunderte Benno, der ein zertrümmertes, kaltes Inneres erwartet hatte.

      Obgleich die Szenerie unwirklich erschien, verspürte Benno keinerlei Furcht. Er hatte ohnehin nichts mehr zu verlieren oder gar etwas, wovor er hätte Angst haben können. Obwohl das Dunkel und die Schatten nach ihm zu greifen schienen.

      Vorsichtig durchforschte er die anderen Räume. Im Erdgeschoss durchlief er eine voll ausgestattete Küche und entdeckte eine - zu seinem Erstaunen noch gut befüllte - Speisekammer. Nur bei den ehemaligen Frischwaren hatte sich der Zustand gewandelt. Doch der Inhalt der Dosen und Gläser mit Eingemachten wäre sicherlich noch genießbar.

      Das geräumige Wohnzimmer lud trotz der Staubschichten, die sich auf den unverhüllten Polstermöbeln