Als Dr. Hillenberg aus dem Zimmer kam, ging Uwe schon auf dem Gang auf und ab. Es genügte nur ein Blick des Arztes, und er verstand.
»Wir wollen ihr noch ein wenig Zeit lassen«, sagte Dr. Hillenberg leise. »Wollen Sie tatsächlich warten, Herr Heltcamp?«
»Selbstverständlich. Ich habe meine Eltern schon angerufen. Wir haben Platz genug im Haus. Nele kann bei uns bleiben. Sie braucht sich auch nicht um die Formalitäten zu kümmern.«
Ob ihr wohl solche Hilfe zuteil geworden wäre, wenn die Heltcamps noch ihr sorgloses Leben führen würden?, ging es Dr. Hillenberg durch den Sinn.
»Kennt ihr diese Nele näher?«, fragte Patrick indessen Anja, um sie auf andere Gedanken zu bringen.
»Wie man sich so kennt vom Club. Und dann haben wir sie mal beim Baden getroffen. Papa ist eigentlich dagegen, dass Schulfreundinnen im Club einen Job bekommen, aber bei Nele machte er damals eine Ausnahme, weil sie sich nicht nur für die Ferien verdingen wollte. Sie brauchte das Geld nötig. Wir wussten aber nicht, dass ihr Vater so krank ist. Wir wussten auch nichts von ihrer Schwester. So traurig es ist – aber wir haben uns nicht darum gekümmert, warum ein junges Mädchen neben der Schule auch noch Geld verdienen muss. Sie war ja auch immer so still, und erst jetzt denke ich darüber nach, dass sie von den anderen Angestellten ausgenutzt worden ist. Sie war jeden Tag von sechzehn bis zwanzig Uhr im Club.«
»Und wie viel hat sie da verdient?«
»Ich weiß es nicht. Im vorigen Jahr, als sie dort angefangen hat, war sie immer zu einem Lächeln bereit, aber dann …« Anja unterbrach sich. »Jetzt weiß ich, warum sie mir aus dem Weg ging, als ich mit Malten dort aufkreuzte. Aber allzu oft waren wir ja nicht dort. Ihm war das Publikum zu gemischt.«
»Er hat aber eine abfällige Bemerkung über Herrn Wolter gemacht, nicht wahr?«
»Ja, einmal, als er Nele angeschnauzt hat, weil sie unsere Getränke nicht sofort brachte. Da sagte ich, er solle doch nicht so ungehalten sein. Schließlich war sie noch ein Schulmädchen und keine gelernte Bedienung. Da sagte er, dass ihr Vater mehr aus seinem Leben hätte machen können, es ihm aber wohl gleichgültig sei, womit seine Töchter ihr Geld verdienten. Es sieht alles anders aus, wenn man die Hintergründe kennt. André hat dann auch so eine Bemerkung fallen lassen, dass Nele möglicherweise Gerüchte über ihn verbreiten würde, weil ihr Vater von seinem Vater unter recht denkwürdigen Umständen entlassen worden sei. Einer näheren Erklärung ist er dann ausgewichen.«
»Als diese denkwürdigen Umstände eintraten, waren Sie noch ein kleines Mädchen, Anja«, sagte Patrick nachdenklich.
»Nele ist noch jünger als ich«, erwiderte Anja. »Es ist traurig zu denken, dass ihre ganze Jugend überschattet war. Aber Uwe findet bestimmt den richtigen Ton, er war nie oberflächlich.«
»Ganz anders als ich«, warf Patrick ein.
»Ich halte Sie nicht für oberflächlich, Sie haben ja auch das Gegenteil bewiesen. Wären Sie so, wie man Sie einschätzte, hätten Sie sich ganz anders verhalten.«
»Wie denn?«
»Sie hätten Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um den Heltcamps eins auszuwischen. Sie würden jetzt nicht hier an meinem Bett sitzen, sondern mit den besten Anwälten beraten, wie man die ganze Geschichte aufrollen könnte, um Ihren Namen im besten Licht erscheinen zu lassen.«
»Mein Image hat mich nie interessiert«, antwortete er. »Meinen Sie, ich hätte Ihnen noch mehr schaden können oder wollen?«
»Sie hätten es sicher gekonnt, wenn Sie es gewollt hätten.«
»Ich hatte jedenfalls die besten Anwälte – Dr. Brink und Uwe. Und ich sitze hier, weil ich wissen wollte, ob Sie einem so verrufenen Mannsbild wie mir wohl die Hand reichen würden, Anja.«
»Nur deshalb?«, fragte sie.
»Nun, wenn ich ganz ehrlich sein will, dann auch deshalb, weil ich beweisen wollte, dass manch einer doch besser sein kann als sein Ruf. Und auch deshalb, weil das, was ich an jenem Abend sagte, meine ehrliche Überzeugung war. Ich werde mir nie verzeihen, dass ich Sie mit diesem Kerl gehen ließ.«
»Und ich werde mir nie verzeihen, dass ich zu André sagte, dass Sie mehr Anstand hätten als er. Das muss ihn erst recht wütend gemacht haben.«
»Das haben Sie gesagt, Anja?«, fragte er bestürzt.
»Mir waren die Augen aufgegangen. Ich hatte ja gehört, dass Marina nicht nur die flüchtige Bekanntschaft war, als die er sie hinstellen wollte. Und ich hatte an diesem Abend noch einiges aufgefangen, was nicht für meine Ohren bestimmt war. Zum Beispiel solche Worte wie: ›Wann wird er das goldene Kalb endlich schlachten?‹ Und ›Kann denn ein Mädchen in dem Alter noch so naiv sein wie Anja?‹ Das habe ich weder Dr. Laurin noch Uwe gesagt. Und meine Eltern sollen es nie erfahren.«
Sie machte eine kleine Pause und fügte dann hinzu: »Er wollte mich heiraten, um Marina Cerny aushalten zu können. Warum kehren Sie mir nicht den Rücken zu? Bin ich nicht naiv und dumm?«
»Anja, Sie waren für ihn zu schade. Sie sollten sich jetzt nicht damit quälen, dass Sie sich in den Falschen verliebt haben. Man unterliegt den seltsamsten, unverständlichsten Täuschungen. Und wir lernen nur aus bitteren Erfahrungen. Das ist eine alte Weisheit. Lena hat mir so oft gesagt, dass kein Mensch ändern kann, was das Schicksal für ihn bestimmt hat. Ich habe stets darüber gelächelt, jetzt lache ich nicht mehr. Aber ich habe auch erkannt, dass es an uns selbst liegt, aus unserem Leben das zu machen, was uns wert dünkt, es wenigstens zu versuchen. Vielleicht wird uns dann doch mancher Wunsch erfüllt.«
»Was wünschen Sie sich, Patrick?«, fragte Anja nachdenklich.
»Dass wir Freunde bleiben, Anja. Ich bin so vermessen zu glauben, dass wir Freunde geworden sind.«
»Ich möchte für eine lange Zeit irgendwohin gehen, wo mich niemand kennt«, sagte Anja gedankenvoll.
»Die selbst gewählte Einsamkeit? Meinen Sie, das wäre eine Lösung? Vielleicht dann, wenn man ein langes Leben hinter sich hat, wenn man in der Einsamkeit von Erinnerungen zehren kann, aber doch nicht, wenn man mit solchen fertig werden muss. Ich habe ein wunderschönes Haus in der Provence, und selbst dort hielt ich es nie lange aus. Aber vielleicht können Sie dort eine Zeit verbringen – gemeinsam mit dieser kleinen Nele. Geteilter Schmerz ist halber Schmerz, sagt man doch. Ich werde Ihnen morgen Fotos bringen von dem Haus und der Umgebung – das heißt, wenn ich Sie wieder besuchen darf, Anja.«
Sie nickte stumm. Ein Kloß schien ihr in der Kehle zu sitzen. Sie wollte ihm noch ein paar nette Worte sagen, aber sie brachte keines über die Lippen. Als er zum Abschied dann wieder so behutsam ihre Hand küsste, zog Ruhe in ihre Seele ein.
»Vergessen Sie die Fotos nicht«, sagte sie leise, um überhaupt etwas zu sagen.
»Bestimmt nicht«, erwiderte er mit einem Lächeln, das ihr in der Erinnerung blieb. Dann lag sie in ihrem Klinikbett und grübelte. Aber sie dachte nicht über sich nach, sondern über Patrick Heym, bis Dr. Laurin ihr seinen täglichen Besuch machte.
Er hatte schon erfahren, dass Patrick bei ihr gewesen war, und es interessierte ihn ungemein, was sie darüber sagen würde.
»Wunderschöne Rosen«, stellte er mit einem hintergründigen Lächeln fest.
»Ja, wunderschön«, stimmte Anja zu. »Ich hatte netten Besuch. Herr Heym war hier.«
Das klang recht erfreulich, aber Dr. Laurin wollte ihr noch mehr entlocken.
»Für einen sogenannten Playboy scheint er recht gute Manieren zu haben«, stellte er wie beiläufig fest.
»Er wird verkannt«, erklärte Anja so bestimmt, dass Dr. Laurin nur staunen konnte. »Auf dem Boden von Neid und Missgunst gedeihen viele Gerüchte. Er leidet nicht an Überheblichkeit.«
»Sie brauchen ihn nicht zu verteidigen, Anja. Ich gebe nichts auf Klatsch, und ich weiß, wie unsicher gerade die allzu Reichen oft sind. Wenn es ihnen an Härte