Zu Lebzeiten Derridas war eine nüchterne Betrachtung der Dekonstruktion kaum möglich. Sie wurde zerrieben zwischen der aggressiven Gegnerschaft eines Großteils der akademischen Philosophie, die ihre Grundlagen bedroht sah, und einem teilweise abstrusen Kult seiner Jünger, die jede dekonstruktive Bewegung Derridas mimetisch aufnahm, verklärte und jede Kommunikation verweigernd, in sich kreisend wiederholte. Während die feindselige akademische Philosophie der verschiedenen Richtungen sich mit dem Hinweis auf diesen Derridaismus eine ernsthafte Beschäftigung mit dem philosophischen Gehalt der Positionen Derridas meist ersparte, hatte der Derridaismus kein Interesse an einem abwägenden, argumentierenden Verständnis und einer nachvollziehbaren Darstellung von Derridas Denken. Angeblich ließe die Philosophie Derridas das auch gar nicht zu. Eine kommunikative Darstellung, die Derridas Position philosophiegeschichtlich einordnet, ginge an ihrem Wesen vorbei, das keine Festlegung des Sinnes erlaube, und wäre ein Rückfall in den Diskurs der Metaphysik.
Ich denke dagegen, dass man auch unter Beachtung der wesentlichen Einschränkungen, die aus der sprachkritischen Philosophie Derridas folgen, seine Philosophie in eine beschreibbare philosophiegeschichtliche Problemlage einordnen und als Beitrag zur Lösung tradierter philosophischer Problemstellungen begreifen kann.
Man kann diese Haltung auch mit Hinweis darauf vertreten, dass Derrida zu dieser Problematik selbst Stellung genommen hat. Zudem legt sein umfangreiches Werk ja Zeugnis von einer philosophischen diskursiven Praxis ab, die auch kommunikativ ausgerichtet war, wobei diese kommunikative Ausrichtung eben keine ausschließliche Festlegung des Sinnes war, sondern eine der möglichen Sinnebenen eröffnet.
Meine zentrale politische Motivation für die philosophische Untersuchung der Dekonstruktion ist die Frage, wie man dem Individuum, dem Heterogenen, in unserer Lebenswelt, unseren politischen Strukturen, unserer Kultur, unserem philosophischen Denken, eine ihm eigene Geltung aus sich selbst heraus verschaffen kann, um von ihm aus dann den gesellschaftlichen Zusammenhang in einer Weise denken und gestalten zu können, die seine Geltung erhält.
Aus drei Gründen beziehe ich in diese Untersuchung auch die Frage ein, ob Dekonstruktion für den Bereich der Politik eine Rolle spielen könnte und wenn ja, auf welche Weise. Erstens blieb die Frage nach der Bedeutung der Dekonstruktion für die Politik in ihrer bisherigen Rezeptionsgeschichte bisher eher unterbelichtet. Im Vergleich mit der Literatur, der Kunst oder der Architektur schien Dekonstruktion im Feld der Politik bedeutungslos zu sein und war im Vergleich zu diesen Feldern äußerst selten Gegenstand von Untersuchungen und Analysen. Man darf daher vermuten, dass die Frage nach dem Zusammenhang von Dekonstruktion und Politik besonders schwierig zu handhabende Probleme aufwirft. Der Grund für diese Probleme liegt in der antitotalitären politischen Motivation der Dekonstruktion, die für ihr Verständnis wichtig ist, die aber auch umgekehrt nicht verstanden werden kann, wenn man die Kernproblematik des Sprechens über Dekonstruktion übergeht. Denn Dekonstruktion macht es schwer, sie in einer nüchternen Wissenschaftssprache zu beschreiben, weil sie jede letzte begriffliche Festlegung systematisch verweigert. Diese Eigenschaft ist nicht nur der Kern der philosophischen Intervention Derridas, sondern auch die notwendige Bedingung einer antitotalitären politischen Haltung, die nicht selbst wieder totalitär erstarrt. Insofern ist die politische Dimension ein wichtiges, erhellendes Moment, auch für das Verständnis der Dekonstruktion als Philosophie.
Zweitens war die politische Dimension der Dekonstruktion für Derrida immer bedeutender als die Rezeption seines Werkes vermuten ließ. Dabei gibt es viele Hinweise darauf, dass Derrida sich nicht nur als politischer Mensch verstand, sondern seine philosophische Arbeit auch in diesen Kontext stellte. Sei es, indem er seine internationale Reputation einsetzte, um verfolgten Intellektuellen zu helfen, sei es, indem er Dekonstruktion als Möglichkeit verstanden wissen wollte, einem totalitären Diskurs nicht wieder mit einem anderen totalitären Diskurs begegnen zu müssen.
Hinzu kommt drittens ein eher äußerliches Argument, das aber dennoch seine Wirkung entfaltet. Seit der durch die Finanzindustrie induzierten Krise 2007 und den dadurch ausgelösten politischen und gesellschaftlichen Erschütterungen drängen politische Fragen machtvoll in den Vordergrund – auch der philosophischen Forschung. Alle philosophischen Ansätze, und damit auch die Dekonstruktion, müssen sich seither fragen, ob sie vielleicht bedeutende Aussagen und Überlegungen zur Verfügung stellen können, die zu einer verbesserten, qualifizierten Politik für den Erhalt unserer Wirtschafts-, Sozial- und Gesellschaftsordnung beitragen könnten.
Das vergangene Jahrhundert war durch die totalitären politischen Systeme des Faschismus und des realen Sozialismus geprägt. Die geschichts- und politikwissenschaftliche Reflexion dieser Erfahrungen soll in diesem Buch durch die philosophische Frage nach ideologischen Mustern totalitärer Herrschaft ergänzt werden. Ich gehe hier der Frage nach, ob es in unserer Kultur ein Dispositiv der Vorherrschaft eines in sich abgeschlossenen Allgemeinen gibt, in dem das Individuelle allenfalls die Geltung besitzt, die ihm vom Allgemeinen als seinem Moment zugewiesen wurde und ob dieses ideologische Dispositiv auf politischer Ebene die Konstruktion totalitärer Systeme legitimiert.
Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist der Ansatz Hannah Arendts, die sich als Philosophin und politische Theoretikerin in ihrem Werk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft2 mit der Zerstörung von Pluralität auf dem Weg zu und in totalitären Herrschaftssystemen auseinandergesetzt hat. Arendt zeigt in ihrem Buch, dass ein enger Zusammenhang zwischen der Ideologie und der Praxis totalitärer Systeme besteht und verdeutlicht die Bedeutung des theoretisch-ideologischen Hintergrundes totalitärer Herrschaftssysteme. Das in sich geschlossene Weltbild, das in der Ideologie der totalitären Staaten produziert wird, liegt der Staatsform der totalen Herrschaft als Prinzip zugrunde und legitimiert sie.
Hannah Arendt hat den Zusammenhang von Faschismus und ideologischem System analysiert. Sie hat damit über diesen konkreten Zusammenhang hinaus Leitbegriffe für die Beschreibung und Analyse eines Gesellschaftstyps entwickelt und die Basis für eine philosophische Totalitarismustheorie geschaffen. Die Totalitarismustheorie wendete diese Leitbegriffe auch auf andere politische Systeme des 20. Jahrhunderts an und erkannte und beschrieb Strukturgleichheiten des Faschismus mit den kommunistischen Diktaturen. Dies führte jedoch auch zu heftigen Diskussionen darüber, ob mit einem übergreifenden Totalitarismusbegriff nicht die Verbrechen des Nationalsozialismus und insbesondere der Holocaust verharmlost würden.3
Dieser von Arendt nachgewiesene Zusammenhang zwischen ideologischen, philosophischen und politischen Strukturen des Faschismus wird hier auch für die Betrachtung des politischen Systems des realen Sozialismus in der Sowjetunion und den von ihr beherrschten Ländern herangezogen. Nach dem Faschismus des Dritten Reichs wird die DDR als zweiter totalitärer Staat in Deutschland angesehen. Ich gehe davon aus, dass wie beim Faschismus, zwischen dem politischen System der DDR und dem zugrunde liegenden Weltbild, dem ideologischen System und seinem philosophischen Referenzsystem, ein Zusammenhang besteht. Ziel der Beschreibung und Analyse dieser Zusammenhänge ist es, Auswege aus, Alternativen zu und Warnungen vor Wiederholungen totalitärer Herrschaftssysteme zu formulieren.
Der ideologische Leitdiskurs des realen Sozialismus und damit auch der DDR war der Marxismus, der sich wiederum zumindest in seiner Variante als dialektischer Materialismus als materialistische Umstülpung des hegelschen Systems verstand. Daher gehe ich der Frage nach, welcher Zusammenhang zwischen dem ideologischen Muster des dialektischen Materialismus als Legitimationsdiskurs totalitärer