Nebelmaschine. Elena Messner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Elena Messner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783990650417
Скачать книгу
rührte mich. Dunkle, harte Erde am Steilhang. Das wenige mattgelbe, teils braune Gras rund um das Lager war zertreten. Außerdem lagen Zigarettenstummel herum, die ich gerne eingesammelt hätte.

      Mir bleibt unbegreiflich, dass das alles acht Jahre her sein soll.

      Ich sehe mich in meiner Erinnerung, wie ich mich dem Lager nähere, das ich einige Wochen später zum letzten Mal betreten sollte. Unweit davon waren Reste eines Belags zu sehen, der von einer Anfahrtsstraße aus der anderen Richtung, vom Wald her, übrig geblieben war. Der Eingang zur Halle war offen, ich konnte im Näherkommen hören, dass im Inneren etwas vorging. Das gesamte Äußere des Gebäudes war Relikt: Stahlgerüst, dreckiges Mauerwerk aus Ziegeln, die Glasscheibe neben dem Eingang herausgebrochen, allesamt Anzeichen dafür, dass hier seit Längerem nichts produziert, gelagert oder verarbeitet wurde, dass es sich also um eines der vielen Lager nahe unserer Stadt handelte, die nicht mehr in Betrieb waren. Meine Annahme bestätigte sich, als ich die Halle betrat. Das Innere war nicht so groß, wie ich gedacht hatte, es wirkte auf den ersten Blick chaotisch. Der Boden betongrau, da standen ein Ohrensessel, drei Kleiderständer, zwei Schminktische mit Spiegeln, dazwischen Holzstühle und Holzbänke. Zwischen diesen Gegenständen wuselten Menschen umher. Die Trennung von Zuschauerraum und Bühnenanlage war bestenfalls angedeutet durch ein paar staubige zusammengezimmerte Bretter, und wären nicht Leute auf den Brettern gestanden, hätte ich nicht einmal diese Andeutung erkannt.

      Ich sehe mich, wie ich in der Halle stehe und schaue: mit einem sofort einsetzenden Gefühl der Verbundenheit. Wahrscheinlich empfand ich mich dem schäbigen Raum, der mehr Baracke als Institution war, und den Leuten, die herumstanden, zugehörig, weil ich alles dort als meines zu erkennen glaubte. Die Abläufe waren mir bekannt, mir war, als würde ich nicht die anwesenden Menschen sehen, sondern nur mir vertraute Tätigkeiten. Es wurde geprobt: Eine ältere Frau schlug sich erst gegen die eigene Brust, dann gegen die Brust ihrer Nachbarin, beide taumelten, warfen sich aufeinander, ließen voneinander ab, eine ging in die Knie, die andere zog sie hoch, und sie wiederholten alles, mit kleinen Abweichungen – ein Stupsen statt des Schlagens oder ein Zurückreißen statt des Wegstoßens. Daneben hüpften vier andere herum, und hinter ihnen lasen zwei einander zuflüsternd etwas vor.

      Ich hatte bereits gelesen, dass sie ihre offenen Proben zum Happening erklärt hatten, sie übten, arbeiteten und diskutierten in einem durch. Das wunderte mich nicht, sie hatten ohnehin keine getrennten Räume, weswegen die Lese- und Spielproben und auch die Besprechungen ineinanderfielen. Es erstaunte mich allerdings, wie viele sie waren, wie voneinander unabhängig ihr Spiel wirkte und wie wenig Abgestimmtheit ich auf den ersten Blick erkennen konnte. Die Leute, die ich zu sehen bekam (manche hörte ich nur, weil sie hinter Gegenständen oder Tüchern versteckt blieben), reagierten nicht aufeinander, wie voneinander abgekapselt. Dazu das andauernde Gemurmel, die Repetitionen und der Gesang, in unterschiedlicher Geschwindigkeit und Lautstärke. Ein jüngerer Mann hatte sich ein Gebüsch aus Kabeln gebastelt – eine Pose, in der ich ihn, Edwin, später oft sehen sollte. Wenn er sein Pult bediente, gingen Lichter in der Halle an und aus oder eine rote Leuchtschrift begann zu blinken. Ich betrachtete eine Zeit lang die kleine, gebretterte Bühne. Im Grunde war es bloß ein Podium, eher für Vorträge und Reden geeignet als für Aufführungen. Mehrere Menschen drängten sich darauf, spielten und diskutierten – eine weitere Situation, die sich später häufig wiederholen sollte.

      Jemand rempelte mich von hinten an und lachte auf (richtig, Nikos ständiges Lachen). Eben noch hatte die Truppe auf der Bühne debattiert, nun wurde es leise. Eine junge Frau drehte sich zu mir um, sie kam mir sogleich bekannt vor. Heute weiß ich, es war die Geste, mit der sie, mich fixierend, skeptisch, eine Strähne über ihre Schulter zog, um danach in Brusthöhe daran herumzuflechten, die mich an etwas erinnerte. Das Gewusel und Gerede hob wieder an, nachdem ich »Hallo!« und »Lasst euch nicht stören!« gerufen hatte. Nur der Blick dieser langhaarigen Frau verunsicherte mich, denn er blieb auf mir ruhen, auch als andere schon aufgehört hatten, sich für mich zu interessieren.

      Laura, denke ich heute, Laura und ihre Haarsträhnen, mein erster Eindruck dieser Frau (ein irreführender).

      Allgemein überraschte es niemanden, dass ich gekommen war, zu den wenig Überraschten gehörte Niko, der Lachende, der mich angerempelt hatte. Er war es, der mich ansprach, retrospektiv würde ich, da ich ihn besser kenne, sagen: aus Höflichkeit. »Erstmals zu Besuch?«, fragte er, und ich nickte. Gleich darauf nahm er mich am Arm, zog mich zur Bar, die sie in einem Eck der Halle eingerichtet hatten, auch das, so bin ich mir sicher, weil er sich gastfreundlicher zeigen wollte als die anderen, die in ihre Arbeit vertieft blieben. Niko, der, wie ich später verstehen sollte, alles auf seinen Schultern trug, ohne es jemanden merken zu lassen, Niko, der gelegentlich eingreifende, immer freundliche Gastgeber, dessen Ruhe die immer gleiche, widerständige Zähigkeit in sich verbarg.

      Im Gehen versuchte ich mir einen besseren Überblick zu verschaffen. Die Bar, auf die wir hinsteuerten, war ein erster Anhaltspunkt, daneben erkannte ich zwei Garderobenständer, auf denen weiße Kittel mit roten Flecken hingen, dahinter lag ein Berg Plastikknochen. Auch die zwei Schminktische und den Ohrensessel in senfgelbem Bezug sah ich im Vorbeigehen aus der Nähe und bemerkte, dass sie alt und schlecht lackiert waren (heute stehen sie in meiner Werkstatt). Es wurde weitergeprobt, während der Mann aus einem Kühlschrank, der keine Tür hatte, zwei Flaschen herausnahm. Da er sich dafür weit nach unten beugen musste, konnte ich unter dem Wollpullover, der sich verzog, seine nackten Rippen und den starken Oberkörper erkennen. Ein Arbeiter, dachte ich unwillkürlich, und ganz unrecht hatte ich damit nicht. Er erhob sich wieder, öffnete beide Flaschen, stellte sich mir vor, wieder lachend, und reichte mir eine (wie andere Menschen Visitenkarten anbieten). Das Bier schmeckte lauwarm und schlecht. Der Kühlschrank war nicht an Strom angeschlossen, alle Steckdosen in erreichbarer Nähe bereits belegt.

      Ich wollte mich anstandshalber für das Getränk bedanken, aber er kam mir mit einer Frage zuvor, ganz rundheraus, wie er auch später immer sein würde. Er wollte wissen, für wen ich arbeitete. Ihn interessierten Details, welche Tätigkeit, welche Produktionen, schon waren wir in ein Gespräch verwickelt. Es dauerte nicht lange, dann stellte ich meine erste Frage, die jemand anderes in ihrer Direktheit als unhöflich hätte auffassen können, er aber nahm sie gelassen: »Wer finanziert euch?«, wollte ich wissen, weil ich nach dem begonnenen Gespräch, das sich von Anfang an so angenehm konkret anfühlte, das Gefühl hatte, ihn alles fragen zu dürfen, mehr noch, ihn gerade etwas Unpassendes fragen zu müssen, als ein Zeichen der Zugehörigkeit.

      »Das zahlt genau niemand«, antwortete er ohne Zögern und ohne Spur von Gereiztheit oder Verärgerung.

      Wir redeten, wie wir später oft miteinander reden sollten, kein missverständliches Aneinander-Vorbei, sondern ein zielgerichteter Informationsaustausch.

      Nach einiger Zeit unterbrach uns eine junge blonde Frau, indem sie ihn von hinten anstupste: »Wir sind hier nicht Privatsphäre, gospod komandant, stell uns vor!«, und was daraufhin folgte, war ein geradezu mechanischer Vorgang, der sich in den folgenden Stunden permanent, nur mit leichten Änderungen im Ablauf, wiederholen sollte: Ich, die ich höflich lächelnd meinen eigenen Namen ausspreche: »Veronika«, meine Hand zu einem Winken gehoben, dann mein Gegenüber, das seinen Namen nennt: »Iris«, während sie bereits jemanden herbeiwinkt und uns vorstellt, der danach noch jemanden herbeiwinkt. Wieder und wieder wurde ich vorgestellt, wieder und wieder hörte ich einen Namen, freundliches Geplauder mit Fremden, die mir ihres Berufes wegen vertraut erschienen: »Schauspielerin?«, »Kostüme?«, »Regie?«, nach Technik fragte niemand. Der Abend war insofern rege, obwohl ich mich kaum bewegte und die meiste Zeit an der Bar stand. Andauernd war jemand Neues neben mir, allerdings, das sei zugegeben, nicht bloß meinetwegen, sondern auch, weil ich neben dem Kühlschrank stand, aus dem man sich das warme Bier holte. Alles in allem entstand bei mir der Eindruck einer geübten oder gewohnten Kennenlernfreude, ein schematisches Ritual der Freundschaftlichkeit: zuerst die Begrüßung, das Willkommenheißen, dann ein kurzes Gespräch oder ein Scherz, manche schlugen mir dazu auf die Schulter, mit anderen tauschte ich bereits Nummern aus, zum Schluss dann immer ein »Bis später« und das Weiterreichen an den Nächsten oder die Nächste.

      Ich verließ an diesem Abend meine Position neben der Bar nur, um zur Toilette zu gehen. Und selbst diese Toilette