Nebelmaschine. Elena Messner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Elena Messner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783990650417
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      Inhalt

       Kapitel I

       Der erste Akt (Laut Manuskript)

       Kapitel II

       Fortsetzung des Dramas (Laut Manuskript)

       Kapitel III

       Ende des ersten Akts (Laut Manuskript)

       Kapitel IV

       Der zweite Akt (Laut Manuskript)

       Kapitel V

       Der dritte Akt (Laut Manuskript)

       Kapitel VI

       Der vierte und vorletzte Akt (Laut Manuskript)

       Kapitel VII

       Der Schluss des Dramas (Laut Manuskript)

       Kapitel VIII

      I.

      Ich stelle mir vor, ich könnte die ganze Aktion noch einmal durchleben, von Anfang bis Ende. Noch einmal alles sehen: mich als Beobachterin mit durchgestrecktem Rücken an der Bar, die anderen auf der Bühne, noch einmal zuschauen, wie aus nichts etwas geworden ist, beim Frieren und Teetrinken, der Argwohn Edwins, Iris und ihre Perlmuttzähne, das Streiten, Nikos Witze, Laura am Laptop, der ihren Blick gefangen hält, noch einmal das Surren der Beamer, und dazu Baugrubers oder Kattnigs Miene. Noch einmal mich mit geschlossenen Augen auf dem Rücksitz eines Autos sehen, während auf den Vordersitzen zwei streiten. Noch einmal (und noch einmal und noch einmal) mich betrachten, bei den Proben, wie ich mit Unverständnis den Kopf schüttele, Listen studiere, auf einen Bildschirm, auf eine Mauer oder in den bauchigen Nebel starre. Die Gesten noch einmal sehen: Lauras ausgestreckte Hand, Nikos Streicheln über Holz, die ausgebreiteten Arme von Iris, als sie sich ins Publikum fallen lässt.

      Ich stelle mir auch vor, die Bilder von Küsten, vom Meer noch einmal zu sehen, schlammigen Boden, durchsetzt von Weidengebüsch, oder den Hinterraum mit den Matratzen, das offene Fenster, durch das vor der Premiere die sternenklare Nacht dringt. Sehen, wie ich bei der Premierenvorstellung mit geschlossenen Augen im Publikum sitze, zuhöre, am Ende klatsche mit vor Überraschung offenem Mund, während immer noch blendende Lichtspuren über die Personen flirren, die sich auf der Bühne zusammendrängen.

      Es ist acht Jahre her, dass ich bei der Premierenfeier am Bretterboden herumkugelte. Genauso alt sind die Fotos von dieser Feier, die seit Kurzem wieder in den Zeitungen zu sehen sind. Das immer gleiche Foto von Iris mit ausgestreckten Armen oder die Fotos von Laura, Rosen haltend. In der digitalen Variante dann die Bilderstrecken, durch die man sich klickt, Fotogalerien, in denen man umherscrollt, vor, zurück, wieder vor: der Nebel, die Polizeiwagen, die Gruppenaufnahmen von der Bühne. Jeden Tag erreicht mich eine weitere Nachricht mit Links zu weiteren Fotos, mehr Berichten, neuen Interviews und Stellungnahmen, man druckt Spezialausgaben zum Thema. Seit die Geschichte wieder hochkommt, ist alles noch stärker geworden in meiner Erinnerung, und bei jedem erscheinenden Artikel stelle ich mir also vor, ich könnte die Ereignisse von vor acht Jahren erneut sehen, alles noch einmal fühlen, allerdings nicht aus heutiger Sicht, sondern streng der Reihenfolge des Geschehens folgend, ohne Wissen um den Ausgang, mit der damals empfundenen Anspannung und Neugierde. Wie erstmals erlebt.

      Aber: Jeder Rückblick auf das »Theater auf Lager« ist bloß eine weitere Wiederaufnahme im Repertoire meiner Erinnerungen. Egal, auf welchen Moment ich da zurückschaue, ich sehe immer sofort, wie er weitergehen wird. Schlimmer sogar: Denke ich an diese Wochen zurück, kann ich sie nur von ihrem unerwarteten Ende her denken. Beim Gedanken an Iris beginne ich Edwin zu erinnern, und dann die Spalte zwischen zwei Holzbrettern, durch die ein süßlich-stickiger Nebel dringt. Beim Gedanken an Baugruber sehe ich Kattnig oder Lauras Haarzopf, sehe langstielige Rosen, achtlos in einen Eimer geworfen, und auch wieder die Polizeiwagen, mit eingeschaltetem Blaulicht, ohne Sirene. Nie, wirklich nie kann ich isoliert und für sich genommen den Moment der Überraschung am Ende der Premiere erinnern. Immer schieben sich zeitgleich die Bilder des Davor und Danach übereinander, als könnte ich meinen Blick nicht fixieren, weil er durch das nachträgliche Wissen verwischt wird. Ja, im Rückblick sieht naturgemäß vieles anders aus, als es mir damals vorkam, aber: Im Rückblick ist es auch nicht erlebt worden.

      Um zu verstehen, wie sich die Ereignisse so spektakulär entwickeln konnten, dass sie noch heute, acht Jahre später, die Zeitungen füllen, muss man wissen: Die Krise war zu dem Zeitpunkt, als ich vom »Theater auf Lager« erfuhr, in unserem Land gewiss keine Abstraktion mehr. Die Platzwunden der Wirtschaft, und damit die Menschen, die im Schatten illegaler Geldgeflechte und Seilschaften existiert hatten, wurden zunehmend unübersehbar. Die Theatergruppe bekam viel Aufmerksamkeit, weil sie von nichts anderem redete als vom Bankrott unseres Landes. Mir hatte die Intendantin an meinem Stadttheater, Magda Mazur, schon zu Winterbeginn eine Lawine von aufeinanderfolgenden Nachrichten weitergeleitet, weil sie (richtigerweise) dachte, das Projekt, zu dem darin eingeladen wurde, könnte interessant für mich sein. Magda war es auch, die mir auf eine meiner Rückfragen hin einen Straßennamen zuschickte, zusammen mit der Erklärung, dass unter dieser Adresse die Lagerhalle zu finden sei, die das neue Ensemble als Proberaum bezogen hatte.

      Natürlich wusste ich, dass sie mich vorschob (sie schob mich ja häufig vor). In solchen Situationen meinte sie stets zu mir, ich sei der einzige Mensch an ihrem Theater, dem sie vertraute, und ich denke nicht einmal, dass sie dabei log. Die Schieflage zwischen uns beiden, die nicht nur eine Schieflage zwischen meiner und ihrer Gehaltsstufe war, sondern eine zwischen Bühnenarbeit und Geschäftsführung, legt es nicht nahe, aber Magda mochte mich, gerade weil ich aus der Technik kam, sie respektierte mich mehr als die ständig wechselnden Dramaturgen und Regisseurinnen. Ich vertraute umgekehrt also auch ihr. Wohin ihre als Hinweise getarnten Befehle führen sollten, konnten wir damals beide nicht wissen.

      Heute könnte ich die Lagerhalle nicht mit Sicherheit wiederfinden, und das, obwohl ich eine Zeit lang fast jeden Tag dort war. Ich weiß noch, dass man, um von der Stadt aus dorthin zu gelangen, die Ausfahrtsstraße in Richtung Süden nach einigen Kilometern verlassen und danach etwa zehn Minuten weiterfahren musste. Irgendwo an dieser Straße zweigte ein Feldweg ab, und von diesem später ein zweiter, dritter, vielleicht ein vierter. War man an einem Bach vorbei, endete der Weg, hier dann: ein Steilhang, der zu einem Wiesenstück mit anschließendem Wald führte, und auf der Wiese die alte Lagerhalle, in der die Gruppe sich eingerichtet hatte.

      An meine erste Ankunft dort erinnere ich mich gut. Es war ein Freitag. Erste Ankunft, das hieß in dem Moment: ein Übermaß jener Neugierde, die wie so vieles, das ich damals empfand, nicht wieder aufrufbar ist (der Rückblick bleibt nüchtern, zu sicher ist man sich der retrospektiven Überlegenheit). Am Hügel oberhalb der Halle waren neben dem Feldweg nur wenige