Natürlich ahnt die Familie nichts von Jasmins Ängsten. Was sollte denn Ines, ihre elfjährige Tochter, denken, wenn sie wüsste, dass ihre Mutter sich vor Monstern fürchtet, die unter Möbeln lauern, und dass sie das Haus nicht betreten kann, ohne gleich das Licht anzuknipsen? Ines, die, ohne zu zögern, mitten in der Nacht aufsteht, um ein Glas Wasser zu holen. Und was würde Adila, ihre Mutter, sagen, die noch nicht einmal volljährig war, als sie sich heimlich dem FLN anschloss, die für ein unabhängiges Algerien kämpfte und bedenkenlos der nächtlichen Ausgangssperre trotzte?
Die Stimmen der Kinder reissen sie aus ihren Gedanken. Sie verabschieden sich voneinander, lachen, flüstern sich Geheimnisse zu, lachen wieder hell auf. Seit der ersten Klasse kennen sich die drei. Jasmin ist froh, dass ihre Tochter so gute Freunde hat. Als sie selber klein war, war sie nur von dummen und noch dazu eingebildeten Puten umgeben.
Mit ihren nun blitzblanken Sneakers laufen die Jungs vorsichtig über die von den Erwachsenen zuvor ausgelegten Kartonstege. Sie wissen, wenn sie mit sauberen Schuhen nach Hause kommen, dürfen sie, wann immer sie wollen, wieder raus zum Spielen.
Ines läuft zu ihrer Mutter in die Küche, um ihr bei den Vorbereitungen fürs Abendessen zu helfen. Jasmin nimmt eine Pfanne aus dem Regal, während ihre Tochter den Salat aus dem Kühlschrank holt.
Jasmin macht das Radio an und dreht an mehreren Knöpfen, bevor sie auf Jazzmusik stösst. Sie stellt den Ton lauter. Mutter und Tochter bewegen sich lachend im Takt. Die Glühbirne in der Küche beginnt zu flackern. Jasmin wird bleich, doch sie sagt nichts und wartet ab. Das Licht hört auf zu flimmern. Die junge Frau kann sich entspannen. Adila sitzt noch immer vor dem Fernseher. Sie brummelt, grummelt, regt sich auf und macht sich Notizen in ein schwarzes Heft, das sie seit einigen Wochen mit sich herumträgt. In einer Ecke der Küche pickt der Goldfink der Familie in seinem Napf nach Körnern, die er knackt, während er den beiden Tänzerinnen zuschaut.
Ein paar Strassen weiter isst Dschamil mit seinen Grosseltern zu Abend, einem pensionierten General und dessen Frau, bei denen er seit dem Tod seines Vaters lebt, der 2007 bei einem Bombenattentat ums Leben kam. Seiner Mutter war es nicht gelungen, das Sorgerecht für den Sohn zu bekommen, der damals gerade mal ein Jahr alt war. Der Grossvater, vor Kummer halb verrückt, wollte den Enkelsohn in der Nähe haben. Es brauchte nur einen Telefonanruf, und das ganze System, bestehend aus Richtern, Politikern, Militärs, Geschäftsleuten, diese seltsame Maschinerie, die Tausende von Männern auf allen Verantwortungsebenen des Landes umfasst, setzte sich in Gang, um die Interessen des Generals zu wahren. Und so zog Dschamil, damals noch ein Baby, im Haus seiner Grosseltern ein und sah fortan seine Mutter nicht mehr, ausser zwei-, dreimal im Jahr unter Aufsicht des Chauffeurs.
Zur selben Zeit schaufelt Mahdi seine Tomatensuppe in sich rein. Neben ihm, im Rollstuhl, sein Vater, der im November 1999 beide Beine verloren hat. Eine Mine, von Terroristen in Baraki gelegt, einem Stadtteil im Südosten von Algier. Er war frisch verheiratet und kaum dreissig Jahre alt, als die Bombe explodierte, nur ein paar Zentimeter von ihm entfernt. Seine Frau, eine der wenigen Frauen beim Militär, befand sich gerade im Armeekrankenhaus, sie hatte einen angeschossenen Kollegen dorthin begleitet, als sie erfuhr, ihr Gatte sei ebenfalls eingeliefert worden. Unterhalb vom Knie ging nichts mehr.
An diesem 2. Februar 2016 verschwinden alle drei Kinder pünktlich um 21 Uhr im Bett, wie an jedem anderen Abend auch.
3
Wie ist es passiert? So sollten die Jugendlichen im Viertel fragen, die nicht dabei waren, als es geschah. Jussef, Anfang zwanzig, würde dann bis ins Detail den Vormittag des 3. Februar 2016 beschreiben, der ein Mittwoch war.
Es war wieder ein Regentag und vielleicht 10 Uhr morgens. Eine schwarze Limousine mit getönten Scheiben fuhr vor, hielt am Rand des Bolzplatzes der Cité du 11-Décembre in Dely Brahim. Schon seit Tagesanbruch regnete es, in dichten Schnüren. Der Chauffeur stieg eilig aus, mit zwei geöffneten Regenschirmen bewaffnet, die er den beiden Insassen hinhielt, die aus dem Wagen kletterten.
Der Erste, General Saïd, war ein Mann von kleinem Wuchs mit klar konturiertem Schnauzbart, er trug eine kantige Brille mit getönten Gläsern. Er hatte glattes schwarzes Haar, ansatzweise grau meliert und straff nach hinten gebürstet, mit Seitenscheitel.
Jussef würde hinzufügen, dass etwas Eisiges von ihm ausging, das sich kaum beschreiben liesse. Er würde stammeln: »Wisst ihr, wie wenn man eine Schlange sieht, keine fette Schlange, keine Boa oder so, aber eine ganz kleine, die dich auf eine Art ansieht, dass du vor Angst wie gelähmt bist und Gänsehaut bekommst.«
Die anderen Jugendlichen, die an jenem Morgen dabei waren, nicken lebhaft.
»Ein Typ, der einem nicht geheuer ist«, würde einer von ihnen ergänzen.
Der Zweite, General Athman, war ein glatzköpfiger Riese mit buschigen Augenbrauen. Er war ganz glatt rasiert, der erste Armeeangehörige ohne Schnauzbart, den Jussef in seinem Leben sah. Er hatte ein feines, maliziöses Lächeln, das ihn selbst auf dem Höhepunkt der Schlägerei nicht verliess. Knapp siebzig dürften die Generäle sein, würde Jussef abschliessend noch bemerken, und in einer trotz ihres Alters phantastischen Verfassung, und beide hatten sie dunkle Anzüge und schwarze Wollmäntel an.
Nachdem er ihnen die Schirme gereicht hatte, zog der Chauffeur sich wieder hinter sein Steuer zurück, wo er reglos verharrte. Die beiden Männer betraten den Bolzplatz. In aller Ruhe setzten sie ihre Schritte, wie beim Spaziergang. Nach ein paar Metern blieben sie stehen und zogen Pläne aus ihren Taschen.
»Wir sassen nicht weit weg und rauchten. Wir haben zu ihnen hinübergeschaut, weil es so seltsam war, wie sie da standen, mitten im Schlamm, im strömenden Regen«, fuhr Jussef fort.
Keiner der beiden Generäle achtete auf Adila, die ehemalige Mudschahida, die sie vom Fenster ihres Hauses aus beobachtete. Rasch warf sie einen Mantel über ihr Kleid, schlüpfte barfuss in ihre Schuhe, ohne nach Strümpfen oder Socken zu suchen, griff nach ihrem Gehstock und war husch, husch die paar Treppenstufen in ihrem alten Haus hinunter, öffnete die Tür, noch ein paar Stufen, und schon stiess sie das schmiedeeiserne Gartentor, das sie nie abschloss, auf und humpelte auf die beiden Generäle zu, wobei ihre Füsse tief in die feuchte Erde einsanken. Ihr rechtes Bein tat ihr höllisch weh, seit sie vor ihrem Haus so gestürzt war.
Adila war klein und brünett und hatte einen Kurzhaarschnitt. Im Algerienkrieg hatte sie mit der Waffe in der Hand gegen die Franzosen gekämpft, und während der Jahre des Terrorismus hat sie weitergekämpft. Die Kids vom Bolzplatz kennen sie gut, sie feuert sie oft von ihrem Fenster aus an und wirft ihnen immer gern die Bälle zurück, wenn sie wieder einmal hinter ihrer Gartenmauer landen.
»Guten Morgen, meine Herren.«
Die Generäle erwidern ihren Gruss mit breitem Lächeln und einem warmherzigen »salam«.
»Ich bin General Athman, und das hier ist mein guter Freund, General Saïd.«
»Ich bin Adila.«
General Athman hält ihr seinen Schirm hin: »Nehmen Sie ihn, Madame, Sie werden sich noch erkälten.«
»Nein, danke, vor ein bisschen Wasser ist mir nicht bange, aber Sie machen sich Ihre schönen Schuhe schmutzig. Was führt Sie denn hierher?«
General Saïd lächelt ihr zu. Er ist so klein, dass er sie kaum um ein paar Zentimeter überragt. Adila hat schon von ihm gehört. Die Hälfte der Geschichten, die über ihn in Umlauf sind, fangen mit diesem eiskalten Lächeln an.
»Wir wollten unser Grundstück in Augenschein nehmen. In ein paar Monaten gehen die Bauarbeiten los. Deshalb sind wir hier, und wir haben unsere Baupläne dabei. Ich freue mich, Sie bald als Nachbarin zu haben, Madame Adila. Ich bin einer Ihrer grossen Bewunderer. Sie haben so viel geleistet für unser Land.«
Ein höhnisches Kichern lässt sie alle drei herumfahren. Lautlos hat sich die alte rothaarige Nachbarin genähert. Ihr gelbes Kleid klebt nass an ihrem Körper, modelliert deutlich Brüste und Po. Sie zeigt mit