„Cool!“, rief Rudy und kam auf sie zu. „Kann ich es mal sehen?“
Tanja gab ihm das Messer. Sie hatte es am Nachmittag in einem Schreibwarengeschäft gekauft. Es war ein Messer, wie es auch auf der Bühne und im Film verwendet wurde. Sie hatte geahnt, dass es für das Treffen am Abend nützlich sein könnte.
Ihre Freunde lachten und unterhielten sich über ihren kleinen Streich. Nur Sandra wirkte immer noch wie betäubt.
Tanja freute sich über ihren Triumph. Doch dann überkam sie ein merkwürdiges Gefühl.
Ein kalter Schauer rann über ihren Rücken. „Es wäre so leicht, wirklich jemanden umzubringen“, dachte sie plötzlich.
So einfach und schnell.
Was für ein komischer Gedanke ...
Tanja sah zu Sandra hinüber, die immer noch mitten im Raum stand. Obwohl sie unverletzt war, war sie wie erstarrt. Sie hielt die Hand auf die Stelle, an der das Messer sie berührt hatte.
Tanja hoffte, dass sie ihre Freundin nicht zu sehr erschreckt hatte. Sie streckte die Hand aus, um Sandra zu besänftigen.
Doch Sandra zuckte zurück. „Tanja“, zischte sie, „rühr mich nicht an. Ich meine es ernst.“
„Was ist denn los?“, fragte Tanja scherzhaft. „Das hier ist der Horrorclub. Kannst du keinen Scherz vertragen?“
„Einen Scherz?“ Sandra schüttelte den Kopf. „Du hast wirklich einen merkwürdigen Humor.“
„Sandra“, flehte Tanja, „sei mir bitte nicht böse!“
Sandra sah sie kalt an. Zornig kniff sie die großen, mandelförmigen Augen zusammen. „Du kennst mich doch, Tanja. Ich bin nicht böse, ich räche mich bloß.“
Wie immer versuchte Nora, die beiden Streithähne zu beruhigen. „Na, kommt schon. Es ist vorbei. Können wir das Ganze nicht einfach vergessen?“
Sandra starrte Tanja an und wiederholte nur eisig: „Wie ich schon sagte, ich bin nicht böse, ich räche mich bloß.“
Ein paar Minuten später war das Treffen zu Ende. Sandra und Nora brachen gemeinsam auf. Tanja begleitete sie an die Tür und hoffte, dass Sandra ihre Entschuldigung annehmen würde. Doch Sandra starrte Tanja nur kalt an und verabschiedete sich mit wenigen Worten.
Gekränkt ging Tanja ins Zimmer zurück und sah Maura und Sam eng nebeneinander auf dem Sofa sitzen. Sie unterhielten sich leise.
Tanja beobachtete sie von der Tür aus. Als Sam den Horrorclub vor ein paar Monaten gegründet hatte, waren Maura und er schon ein ganzes Jahr zusammen gewesen.
Doch es hatte so ausgesehen, als wollte er Maura loswerden. Immer wieder hatte er Tanja um eine Verabredung gebeten, bis sie endlich zugestimmt hatte. Ihr war zwar klar gewesen, dass es ihre Freundschaft mit Maura zerstören würde. Aber sie fühlte sich zu Sam so stark hingezogen wie zu keinem anderen Jungen.
Nun sah sie, wie Maura lachte und Sam leicht am Handgelenk berührte.
„Warum bin ich denn gar nicht eifersüchtig?“, wunderte Tanja sich. „Habe ich etwa schon genug von Sam?“
Noch vor zwei Monaten hatte sie geglaubt, ernsthaft in ihn verliebt zu sein. Jetzt war sie sich nicht mehr so sicher.
Sam hatte sich seit dem Tod seines Vaters vor drei Wochen stark verändert. Manchmal wirkte er so distanziert. Fast wie ein Fremder.
„Hey.“ Rudys Stimme ließ sie zusammenschrecken. Sie hatte ganz vergessen, dass er auch noch da war. Er war ganz leise an sie herangetreten. „Das war eine tolle Geschichte“, sagte er.
„Danke“, erwiderte Tanja unbehaglich.
Rudy lächelte sie an. Er war kleiner als Tanja, doch erstaunlich muskulös, seit er Kraftsport machte. Seine sanften braunen Augen sahen sie interessiert an.
Tanja hatte seine schönen Augen noch nie wahrgenommen. Rudy wirkte stark und gleichzeitig einfühlsam auf sie.
„Ich glaube, du wirst eines Tages berühmt“, prophezeite Rudy. „Tanja Blanton, Bestsellerautorin von Horrorgeschichten. Die Leute werden Schlange stehen, um deine gruseligen Geschichten zu lesen.“
„Ehrlich?“ Tanja war geschmeichelt. „Glaubst du das wirklich?“
„Klar glaube ich das“, sagte Rudy.
Er hatte den Satz kaum beendet, als Maura durchs Zimmer stürmte und ihn am Arm packte. „Worüber redet ihr beide?“, fragte sie misstrauisch.
„Nichts“, antwortete Tanja harmlos. „Wir reden bloß über meine Geschichte.“
„Heute sind alle so genervt“, bemerkte Maura, während sie Rudy immer noch am Arm festhielt und ihn zur Tür zog. „Das verstehe ich gar nicht.“
Auf dem Weg nach draußen warf Rudy noch einen Blick zurück. „Wir sehen uns in der Schule“, rief er Tanja zu.
„Nicht, wenn ich es verhindern kann!“, witzelte Tanja.
„Was für ein toller Spruch“, hörte sie Maura murmeln. Dann gingen beide hinaus.
Sam kauerte immer noch auf der Couch und starrte zerstreut auf seine Turnschuhe. „Jetzt sind nur noch wir beide übrig“, dachte Tanja.
Sie setzte sich neben ihn und nahm seine Hand. Sie wünschte, es gäbe etwas, womit sie ihn aufmuntern könnte. Früher hatte er eine absolute Schwäche für Scherze wie den mit dem Trickmesser gehabt. Tanja und er hatten stundenlang über den größten Blödsinn lachen können.
Doch in letzter Zeit wirkte er fast immer düster.
„Bist du okay?“, fragte sie leise.
„Ja. Mir geht es gut“, erwiderte er abwehrend.
Tanja zuckte mit den Schultern. „Du bist heute Abend so still.“
Sam schwieg. Sie hasste es, wenn er so verschlossen war. Als würde sie gar nicht existieren. Sie nahm seine Hand und verschränkte ihre Finger mit seinen. „Die Geschichte, die du für mich geschrieben hast, ist super angekommen“, murmelte sie. „Es war toll von dir, mir damit auszuhelfen.“
„Das hab ich gern getan“, sagte er und drückte sanft ihre Hand. „Es hat mir Spaß gemacht.“
Tanja spürte ein leises Schuldgefühl. Sam hatte auch die letzten drei Geschichten für sie geschrieben. Sie war immer mit anderen Dingen beschäftigt gewesen, doch ihm schien es nichts auszumachen.
Aber jetzt machte sie sich Sorgen. Vor allem, weil die anderen Clubmitglieder anscheinend Verdacht geschöpft hatten. Sie fürchtete um ihre Position als Clubautorin.
„Du hast Maura doch nicht etwa gesagt, dass du die Geschichte geschrieben hast, oder?“, fragte Tanja nervös.
Sofort zog Sam seine Hand weg. „Hey, nie im Leben.“
„Gut.“ Sie war erleichtert. „Ich glaube, Maura kann mich nicht ausstehen. Ich meine ...“
Sam unterbrach sie, indem er sie sanft auf die Lippen küsste. Tanja war angenehm überrascht. Sie wünschte sich, dass der Kuss andauerte. Sie wollte sich an die schöne Zeit erinnern, bevor Sam sich verändert hatte.
„Er sieht so gut aus“, dachte sie. Sie liebte es, wie seine dunklen Locken ihm ins Gesicht fielen, wie süß er aussah, wenn er lächelte. Damals, als er noch lächeln konnte.
„Wir waren so glücklich ...“
Sam rückte von ihr ab, als könnte er ihre Gedanken lesen. Sein Blick war in die Ferne gerichtet.
„Sam?“ Tanja wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht herum. „Bist du noch da? Stimmt irgendwas nicht?“
Er nickte langsam.