Der Regen war zu laut, als dass man ihre Worte hätte verstehen können. Aber sie klang ziemlich fertig mit den Nerven.
„Was ist denn los?“, fragte Cassie.
„Wer ist da draußen?“, wollte Deirdre wissen und drängte sich zwischen Arnie und mich, um aus dem Fenster zu schauen. „Wer ist die denn?“
Arnie und ich rasten zur Tür und in den strömenden Regen hinaus. Es schüttete aus Kübeln. Blitze zuckten knisternd über den Himmel. Als ich mit meinen Turnschuhen in eine Pfütze stieg, spürte ich das kalte Wasser bis über meine Knöchel.
Das Mädchen schrie und zeigte auf irgendetwas. Ich konnte kein Wort verstehen. Der Regen war einfach zu laut. Das war ja ein richtiges Unwetter!
Arnie rannte ein kleines Stück vor mir. Unter unseren Füßen spritzte das Wasser nur so auf und der Regen lief mir von der Stirn in die Augen. Ich musste sie zusammenkneifen, um das Mädchen erkennen zu können.
Sie war völlig durchnässt. Ihr kurzes blondes Haar lag wie ein Helm am Kopf an. Sie schien völlig außer sich zu sein.
„Was ist los?“
Sie rief mir etwas zu und zeigte hinter mich.
Ich war schon fast am Tor, als ich ihre Worte endlich verstand: „Ein Mädchen! Ein Mädchen ist im Pool ertrunken! Dahinten!“
„Was?“ Im ersten Moment konnte ich gar nicht reagieren. Wahrscheinlich war ich durch den Schock wie betäubt. Ich starrte das Mädchen am Tor nur mit offenem Mund an.
„Sieh doch! Dahinten, im Pool!“, schrie sie noch einmal.
Endlich konnte ich mich wieder rühren. Ich versuchte, mir das Regenwasser aus den Augen zu wischen.
Ich drehte mich um, beschattete mit einer Hand meine Augen und rannte zum Swimmingpool.
Mein Herz hämmerte wie verrückt. Ein paar Mal wäre ich fast auf dem feuchten Pflaster ausgerutscht und hingefallen. „Wer könnte denn hier ertrunken sein?“, fragte ich mich. Der Klub war doch noch geschlossen.
Die Schreie des Mädchens hinter mir gingen jetzt wieder im gleichmäßigen Rauschen des Regens unter.
Wenige Sekunden später erreichte ich schwer atmend den Pool. Ich holte tief Luft und schaute in das Becken.
Während ich die Regentropfen wegblinzelte, suchte ich mit meinen Blicken den Pool ab.
Es war niemand zu sehen. Keine Menschenseele.
4
– Lindsay –
War das peinlich!
Am liebsten wäre ich vor Scham im Boden versunken.
Ausgerechnet so mussten die anderen Rettungsschwimmer mich kennenlernen. Durchnässt bis auf die Haut. Ein nasses, zitterndes Häuflein Elend.
Als Danny, der Rothaarige, und Arnie, der Kleine, Magere, mich in den Gemeinschaftsraum führten, rang ich immer noch keuchend nach Luft. Mein Hals fühlte sich ganz wund an vom Schreien.
Am liebsten hätte ich mich in Luft aufgelöst. Oder mich in eine Pfütze Regenwasser verwandelt.
Das T-Shirt klebte mir am Körper, meine Haare waren an den Kopf geklatscht und meine Turnschuhe waren voller Wasser. Ich setzte meinen Seesack ab. Als er den Boden berührte, gab es ein quietschendes Geräusch.
Eines der Mädchen, eine Große mit kurzen rötlich braunen Haaren, nannte mir ihren Namen. May-Ann Delacroix. Dann stürmte sie los, um mir ein Handtuch zu holen.
Aber ich wollte kein Handtuch. Ich wollte ein Loch, ein tiefes Loch, in dem ich versinken konnte. Einen Platz, um mich zu verstecken. Am besten für immer.
„Was ist passiert?“
„Warum hast du geschrien?“
„Warst du ausgesperrt?“
„Was hast du gesehen?“
„Was hast du da draußen eigentlich gemacht?“
„Hat dich jemand angegriffen?“
Von allen Seiten wurde ich mit Fragen bombardiert. Auf den Gesichtern spiegelten sich Besorgnis und Verwirrung.
Aber ich konnte nicht antworten. Ich zitterte viel zu sehr, um zu reden.
Ich versuchte, mir mit dem Handrücken das Wasser aus den Augen zu wischen. Doch von meiner Stirn tropfte immer wieder welches nach.
„Holt ihr doch erst mal was Heißes zu trinken“, sagte einer.
„Mir … mir geht’s gut“, gelang es mir schließlich hervorzustoßen.
May-Ann kam in den Raum gestürmt und legte mir ein Badetuch um die Schultern. Ich nahm es und rubbelte mir damit die Haare trocken.
Mein Herz raste immer noch. Aber ich fing langsam an, mich wieder zu beruhigen.
Danny, der rothaarige Typ, war zwischendurch für eine Weile verschwunden gewesen. Jetzt kam er in trockenen Klamotten, einem langärmligen blauen Pullover und weißen Tennisshorts, zurück.
„Wie heißt du?“, fragte er. Ich vermutete, dass er der Chef der Rettungsschwimmer war. Jedenfalls verhielt er sich so, als hätte er hier die Verantwortung.
„Lindsay Beck“, antwortete ich.
Dann stellte er mir die anderen vor. Es war unmöglich, mir auf Anhieb alle Namen zu merken. An May-Ann erinnerte ich mich natürlich. Sie hatte mir schließlich das Handtuch gebracht. Das hübsche Mädchen mit den seidigen schwarzen Haaren hieß Deirdre und der blonde Muskelprotz mit dem roten Tuch um die Stirn Phil.
Alle scharten sich um mich und starrten mich an, als wäre ich ein Ausstellungsstück im Museum.
„Das Mädchen im Pool …“, setzte ich an, brach dann aber ab. Ich meine, wie sollte ich Danny das erklären?
Er schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, was du gesehen hast, Lindsay. Im Pool war nichts – außer ein paar Blättern.“
Ich schluckte betreten.
Dabei hatte ich sie doch ganz deutlich gesehen. Sie trug einen blauen Bikini und ihre Haut war furchtbar bleich. Ihr Haar, das auf dem Wasser trieb, war blond wie meins.
„Es … es tut mir leid“, stotterte ich und spürte, wie mein Gesicht ganz heiß wurde. „Das muss der Regen gewesen sein. Irgendwelche Schatten oder so. Ich komme mir vor wie ein Volltrottel.“
„Hey, entspann dich“, sagte Danny und lächelte mich an. Er hatte ein nettes Lächeln. Normalerweise stehe ich nicht auf rothaarige Typen mit Sommersprossen, aber er war wirklich süß. „Ich wollte sowieso duschen!“, witzelte er.
„Hattest du auch nötig“, stichelte der kleine Kerl, der mit ihm durch den Regen gerannt war.
Ich schüttelte meinen Kopf und versuchte, meine Haare in Form zu bringen. Dann trocknete ich mir mit dem Handtuch Arme und Hände ab. May-Ann war zu ihrem Sessel auf der anderen Seite des Raums zurückgekehrt und beobachtete mich von dort aus. Sie hatte kalte dunkle Augen und einen angespannten Gesichtsausdruck.
„Du dachtest also, du hättest jemanden im Pool gesehen?“, fragte ein Mädchen mit heiserer, flüsternder Stimme, deren Namen ich schon wieder vergessen hatte. Sie warf ihre weißblonde Mähne über die Schulter zurück.
„Was wolltest du eigentlich am Tor?“, fragte Phil. „Der Klub öffnet doch erst morgen.“
„Wahrscheinlich ein paar Runden schwimmen, bevor es voll wird!“, witzelte Arnie.
Keiner lachte.
„Ich bin Rettungsschwimmerin“, erklärte ich den anderen und schaute auf meinen durchweichten Seesack hinunter. „Ich weiß, dass ich im Moment nicht so aussehe. Aber es stimmt.“