Erregung und sexuelle Anspannung
Sobald unsere sexuelle Erregung ein bestimmtes Maß erreicht, lösen die unbewussten Spannungen in uns ein drängendes körperliches Bedürfnis, ein starkes Verlangen nach einem Orgasmus aus. Wenn diese Spannungen ganz vehement in uns einschießen, bewegen wir uns automatisch weg vom Hier und Jetzt und arbeiten mit allen Mitteln auf einen künstlichen Höhepunkt zu, da unser Fokus in der Zukunft liegt. Tatsächlich sind wir beim Sex nicht wirklich präsent, weil wir bereits nach einem bestimmten Ergebnis schielen. So kann die sexuelle Energie keine ermächtigende und bewegende Kraft sein, sondern ist einfach ein Aufladen und ein daraufhin entsprechendes Entladen der Spannung.
Diese sexuelle Spannung bewegt sich selten durch den Körper hindurch oder verlässt ihn jemals ganz. Stattdessen bleibt sie uns als unbefriedigtes Verlangen erhalten, nimmt mit der Zeit zu und sucht ständig nach einer neuen Möglichkeit, sich zu entladen. Das macht unsere Genitalien hart und unempfindlich, und lässt uns selbst emotional, ruhelos, lüstern oder wütend zurück. Wird diese angestaute Energie ausgelöst oder durch sexuelle Stimulation angefeuert, kommt sie zu der bereits angespannten Energie in unserem Sexzentrum hinzu.
Es ist wie beim Fundament eines Hauses: Ist der Grundstock schwach, fehlt es allen Strukturen, die darüberliegen, an Stabilität und Unterstützung von der Basis. Genauso fehlt es den höheren Energiezentren im Körper an Vitalität, Nahrung und Integrität. Wenn die Spannungen, die uns zum Orgasmus drängen also die Basis unseres Liebemachens sind, wird ein eh von Grund auf geschwächtes System einbrechen. Dieser Einbruch, der auf unser empfindsames Sexzentrum einwirkt, reißt automatisch das ganze unbewusste, kollektive, sexuelle Erbe mit sich. Wenn sich der Strom psychologischer Krankheiten und Perversionen aus Tausenden von Jahren heute durch unseren Körper bewegt, geht die eigentliche Unschuld und die Spiritualität des Sexaktes verloren. Dabei handelt es sich im Grunde um eine psychologische Krankheit, die, auch wenn sie sich über den Körper ausdrückt, durch eine Haltung des Verstandes hervorgerufen wird.
Zeit zum Entspannen
Tantra arbeitet direkt mit dem Verstand und der Ruhelosigkeit der Psyche, indem es uns wieder mit unserer eigentlichen sexuellen Natur verbindet. Sex ist ein Aspekt der Seele. Da Herz und Seele heutzutage mit Sex an sich wenig zu tun haben, handelt es sich bei dem wieder neu aufgeflammten Interesse für altes Wissen über Sexualität um einen wirklichen Versuch, der wachsenden Unwissenheit über Sex zu begegnen. Wenn wir Sex intelligent angehen, wenn wir sexuelle Energie auf unschuldige, spielerische, fast kindliche Weise erfahren, ohne von vornherein ein Ziel im Auge zu haben, fangen wir an, unser Gefangensein in persönlicher und kollektiver Vergangenheit zu lösen und uns für eine Welt neuer Erfahrungen zu öffnen.
Zunächst brauchen wir zum Thema Zeit eine andere Haltung, denn Zeit ist das, was wir daraus machen: Ist Zeit Geld, dann übt Zeit Druck aus, mehr Dinge darin unterzubringen und mehr aus ihr zu machen. Wenn Zeit wie in der Natur zyklisch ist, dann entsteht eine Geduld, die den Druck herausnimmt und durch Gelassenheit ersetzt.
Du hast dich bestimmt schon einmal gefragt, wie du z. B. vor einem Flug alles geregelt kriegen sollst. Und dann sitzt du im Flugzeug, alles ist geschafft und du fliegst über den Wolken. Wenn Zeit das ist, was wir daraus machen, dann muss sie flexibel gehalten werden, sodass sie sogar stillstehen kann. Und das geschieht, wenn wir in den gegenwärtigen Augenblick kommen. Deswegen braucht man beim Tantra für das Liebemachen einen Stil, bei der man sich Zeit lässt. Wir haben es nicht eilig, und wir machen uns wegen der Zeit keine Sorgen; so werden wir uns des Augenblicks, der sich in voller Vielfalt zeigt, bewusst.
Als ich in Indien lebte, habe ich erlebt, dass Zeit dort fast unwichtig ist; tatsächlich schert sich niemand wirklich darum. Gestern, heute, morgen – das macht keinen großen Unterschied. Interessanterweise benutzt man auf Hindi für „gestern“ und „morgen“ dasselbe Wort: „kal“! Diese Grundhaltung der Zeit gegenüber verleiht dem gesamten Land eine unheimlich entspannende Qualität, in der Sein wichtiger ist als Tun. Jederzeit kann zum Beispiel ein überfüllter Zug anhalten und fünf Stunden stillstehen, nur zwanzig Minuten vom Zielbahnhof entfernt, kurz vor Ende der Reise. Das habe ich selbst erlebt, und es gab keine Erklärung für diese riesige Verspätung. Alle Passagiere akzeptierten es voller Gelassenheit. Erwachsene entspannten und unterhielten sich und die Kinder bewegten sich im überfüllten Abteil, als wären sie zu Hause, Leckerbissen wurden herumgereicht, und schließlich setzte sich der Zug wieder in Bewegung. Keine Panik oder Aufregung, denn niemand musste sein Ziel zu einer bestimmten Zeit erreichen.
Nachdem ich ein paar Jahre in Indien gelebt hatte und nach Europa zurückgekehrt war, saß ich in einem deutschen Flugzeug von Frankfurt nach Berlin. Der junge Geschäftsmann neben mir sah dauernd auf seine Uhr und war gestresst, weil sich der Abflug um eine Minute verspätet hatte! Als wir fünfzehn Minuten später starteten, war er total wütend, dass die Verspätung seinem Termin in die Quere gekommen war und er ein paar Minuten zu spät zu einer alles entscheidenden Besprechung kommen würde. Den Rest der Reise war er so unruhig, dass er nicht fähig war auch nur einen Moment ruhig oder entspannt zu sein. In den westlichen Ländern bestimmen Ziele, Pläne und die Zeit unser Leben. Es ist heute „cool“ beschäftigt zu sein, und wir halten uns oft beschäftigt, um Unsicherheiten oder Ängste zu vermeiden, die wir vieleicht in Bezug auf Liebe und Intimität haben mögen.
Wie oft bist du zu beschäftigt gewesen, um Liebe zu machen? Und wenn du dann Zeit gefunden hast, war es abends das Letzte, schnell noch fünfzehn oder zwanzig Minuten vor dem Einschlafen. Oder morgens schnell einen Quickie vor der Arbeit. Bei dieser Art Sex ist es die Zeit, die uns diktiert, und sie fordert, dass etwas passieren muss, und zwar schnell! Dieser Anspruch nach schnellem Lustgewinn lässt uns sofort in Richtung Orgasmus steuern, weil es sich so gut anfühlt.
Im Gegensatz dazu sagt Tantra, dass Liebemachen einfach Zeit braucht, viel Zeit, und gar keine Eile. Sexuelle Energie braucht Stunden, um zu entspannen, anzuwachsen und aufzublühen und uns das tiefe Glück eines erfüllenden Liebesaktes zu schenken. Wenn wir diese Gelegenheit wahrnehmen, machen wir wunderbar frische und unerwartete Erfahrungen, bei denen die Energie jedes Mal unterschiedlich schwingt. Das kann uns unmöglich langweilen. Dadurch, dass wir uns in die Unmittelbarkeit des Augenblicks hineinentspannen, bestimmen wir die Dimensionen in Wirklichkeit nämlich selbst – wir machen den Unterscheid.
Eine heilende Kraft
Diese tantrische Dimension öffnet sich uns ganz natürlich und zufällig, wenn wir als Liebespaar entspannt, offen und füreinander da sind, oder frisch verliebt oder vielleicht umgeben vom prächtigen Grün der Natur. Viele von uns haben diese magische Erfahrung gemacht, wenn ein Augenblick sich wie der Himmel anfühlt. Ich erinnere mich, dass es mir spontan in Indien so ging, während eines intensiven Monsunregens am Abend. Das Donnern und die Sturzbäche gaben mir das Gefühl, in einen Wirbelwind von Intensität eingebettet zu sein. Ich lag mit meinem langjährigen Partner zusammen in einem großen Bambusbett, als die Zeit plötzlich stillstand und wir uns wie ein Körper bewegten, leidenschaftlich und ziellos, bewusst im sich entfaltenden Augenblick versunken. Ich war wie golden und fließend, stundenlang ekstatisch erfüllt von Liebe und hatte keine Ahnung, wie ich dorthin gekommen war. Durch Tantra habe ich jetzt bewusst einen Zugang zu dieser geheimnisvollen Dimension des Augenblicks, nicht mehr nur aus Versehen oder durch Zufall.
Ein Großteil unserer Probleme, Ängste, unseres Unglücks, sogar unserer Krankheiten beruhen auf sexuellen Themen. Wenn wir Sexualität wertschätzen lernen, indem wir unser Bewusstsein miteinbeziehen, so wie es von Natur aus gewollt ist, entdecken wir, dass Sex eine heilende, spirituelle Kraft ist. Und überraschenderweise lässt das sexuelle Interesse mit der Zeit nicht nach, wie es sonst bei Paaren üblich ist. Ganz im Gegenteil, die Anziehung nimmt zu.
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