Eva Hoffe setzte sich allein in die erste Reihe. Monate zuvor war ich ihr zufällig in Tel Aviv in der Ibn-Gwirol-Straße unweit ihrer Wohnung begegnet; damals wirkte sie verloren, schien einsam umherzuirren. Heute lag ein Ausdruck ungeteilter Aufmerksamkeit und Klarheit auf dem Gesicht mit den vielen dunklen Pigmentflecken. Sie setzte sich hinter ihren Rechtsvertreter Eli Sohar, einen Staranwalt mit besten Verbindungen, der Wirtschaftsbosse, hochrangige israelische Armeeoffiziere, Spitzenkräfte der israelischen Militärindustrie und des Inlandsgeheimdienstes Schabak ebenso vertreten hatte wie, wenn auch weniger erfolgreich, den früheren israelischen Ministerpräsidenten Ehud Olmert. (Olmert, der 2012 wegen Untreue und 2014 wegen Korruption schuldig gesprochen worden war, musste im Februar 2016 eine neunzehnmonatige Gefängnisstrafe antreten.) Eva Hoffe hatte in den acht Jahren zuvor mehrmals den Anwalt gewechselt: Ehe sie sich auf Sohar verlegte, war sie von Jeschajahu Etgar, Oded Cohen und Uri Zfat vertreten worden. Sie erzählte mir, sie habe zu Sohars Gunsten eine Pfandverschreibung für ihre Wohnung unterzeichnet, damit der Anwalt, falls sie vor Abschluss des Verfahrens sterben sollte, auch sein Honorar erhielt.
Eli Sohar, das dünne Haar auf eine Seite gekämmt, die schwarze Robe lotrecht zum gebohnerten Parkett, räusperte sich und sprach mit distanzierter Höflichkeit und ohne viel Pomp. In seinem kraftvollen Bariton begann er mit der Feststellung, das Gericht habe gar keine Entscheidung zu fällen. Das Urteil sei faktisch schon vier Jahrzehnte zuvor gefallen. Als Franz Kafka 1924 einen Monat vor seinem 41. Geburtstag an Tuberkulose starb, habe sich sein enger Freund und Gefährte Max Brod – selbst ein produktiver und angesehener Autor – über Kafkas letzte Anweisung hinweggesetzt, die verbliebenen Manuskripte, Tagebücher und Briefe ungelesen zu verbrennen. Stattdessen habe Brod die Manuskripte gerettet und den Rest seines Lebens der Aufgabe gewidmet, Kafka als prophetischstem und verstörendstem Chronisten des 20. Jahrhunderts Eingang in den Literaturkanon zu verschaffen. Nachdem Brod 1968 in Tel Aviv gestorben sei, sei [die Verfügungsgewalt über] dieses Konvolut auf seine Sekretärin und Vertraute Ester Hoffe, Evas Mutter, übergegangen.
Fünf Jahre nach Brods Tod, 1973, fuhr Sohar fort, habe der Staat Israel Ester Hoffe wegen des Besitzes der Manuskripte verklagt. Den Fall habe Richter Jitzchak Schilo am Bezirksgericht Tel Aviv verhandelt. Im Januar 1974 habe Richter Schilo geurteilt, dass Brods Letzter Wille »Frau Hoffe erlaubt, zu Lebzeiten nach Belieben über den Nachlass zu verfügen«.
Mit Verweis auf dieses Präjudiz erklärte Sohar, das derzeitige Verfahren sei bei allem gebotenem Respekt unnötig. Es gebe keinen Anlass, einen Fall neu zu verhandeln, in dem Ester Hoffe das Anrecht auf die in ihrem Besitz befindlichen Papiere bereits zugesprochen worden sei.
Dieses Argument machte bei Richter Rubinstein wenig Eindruck. Schulmeisterlich und mit dem Anstrich der Allwissenheit fertigte er Sohar ab. »Der Herr Anwalt möge bitte auf den Punkt kommen. Wir können nicht allzu viel Zeit auf Richter Schilos Urteil verwenden, das wir gelesen haben. Der Herr Anwalt möge fortfahren.«
Unbeeindruckt versuchte es Sohar mit einem anderen Kurs: Warum, fragte er, sollten die Nachlässe von Kafka und Brod in die Israelische Nationalbibliothek überführt werden, eine Institution, der es doch offensichtlich an Fachleuten für deutsche Literatur mangele?
Es sei aber doch nicht so sehr die Frage, warf Richter Zylbertal von der rechten Seite der Empore ein, ob die Bibliothek Fachleute vorweisen könne, sondern ob sie das Material aufnehmen und Wissenschaftlern, die es konsultieren wollten, zugänglich machen könne.
Nun erhob sich Anwalt Jossi Aschkenasi, gerichtlich bestellter stellvertretender Verwalter des Brod-Nachlasses. Er war jünger als Sohar, trat nicht so geschmeidig auf und sprach auch weniger gedrechselt. Brod habe zwar Ester Hoffe die Entscheidung überlassen, wie und wem sie die Manuskripte übergebe, erklärte er, nicht aber das Recht, diese Entscheidung an ihre Erben weiterzugeben. Brod »wollte nicht, dass sich ihre Töchter darum kümmern«.
Eva Hoffe senkte die blauen Augen und schüttelte heftig den Kopf mit den halblangen Haaren. Doch sie unterließ jeden weiteren Ausdruck ihres Missmutes.
Nun rückte von rechts der kugelrunde Kahlkopf von Anwalt Meir Heller ins Blickfeld. Heller, der schon über die gesamten acht Jahre des Rechtsstreits die Israelische Nationalbibliothek vertreten hatte, hob schwungvoll zur Rede an. Er warf Ester Hoffe vor, die Manuskripte jahrzehntelang weggeschlossen und Wissenschaftlern die Einsicht verweigert zu haben, und empfahl dem Gericht, dieser unhaltbaren Situation ein Ende zu bereiten. Hunderte von Wissenschaftlern besuchten jedes Jahr die Nationalbibliothek, um in den tausend dort eingelagerten persönlichen Archiven jüdischer Schriftsteller zu forschen, so Heller, und man könne nur hoffen, dass auch die von Brod geretteten Papiere Kafkas bald ihren rechtmäßigen Platz dort finden würden. Der Unterton seiner Argumentation war unmissverständlich: Kafka, Verfasser jüdischer Literatur in einer nichtjüdischen Sprache, gehört in den jüdischen Staat.
»Kafka als jüdischen Schriftsteller darzustellen ist einfach lächerlich«, hatte Eva Hoffe einmal zu mir gesagt. »Er war nicht gern Jude. Er schrieb aus dem Herzen. Er stand nicht im Dialog mit Gott.« Aber selbst wer ihn als jüdischen Schriftsteller einordne, könne daraus nicht »die richtige Heimat« für seinen literarischen Nachlass ableiten. »Nathan Altermans Nachlass ist in London, Jehuda Amichais in New Haven«, sagte sie in Bezug auf zwei der beliebtesten Dichter Israels. »Welches Gesetz schreibt vor, dass das Archiv eines jüdischen Schriftstellers in Israel bleiben muss?«6
Amichai war in der luxuriösen Lage, noch zu Lebzeiten darüber zu entscheiden, wo seine Papiere hingehen sollten; Brod kann uns über seine Wünsche nichts mehr sagen. Der postume Umgang mit literarischen Nachlässen ist etwas völlig anderes als der Erwerb von Vorlässen, Materialien lebender Autoren. Doch für Eva Hoffes Argument gab es auch noch andere Beispiele. So konnte etwa der britische Romancier Kingsley Amis der Ansicht, dass Manuskripte britischer Autoren in Großbritannien bleiben sollten, nichts abgewinnen. Er habe keinerlei Gewissensbisse, seine Papiere ins Ausland zu geben:
Ich würde jedes meiner Manuskripte dem Meistbietenden verkaufen, vorausgesetzt, er hat einen ordentlichen Leumund; die Herkunft dieses Bieters ist mir völlig egal. Ich finde, es ist nicht unpassender, wenn die Tate Gallery, sagen wir, eine große Sammlung von Monets hat, als wenn die Buffalo University, sagen wir, eine Manuskriptsammlung von [dem englischen Dichter und Romancier] Robert Graves besitzt.7
Im Jahr 1969 verkaufte Amis eineinhalb Kartons mit Manuskripten an das Harry Ransom Humanities Center in Texas.8 Fünfzehn Jahre später veräußerte er die übrigen Materialien und die Rechte auf alle künftigen Papiere an die Huntington Library in San Marino, Kalifornien (die auch eine der weltweit exklusivsten Sammlungen früher Ausgaben eines anderen englischen Schriftstellers beherbergt: William Shakespeare).
Vier Tage vor der Verhandlung vor dem Obersten Gerichtshof in Jerusalem stellte der Deutsche Bundestag in Berlin unter Beweis, mit welchem Nachdruck europäische Länder solche Verkäufe zu unterbinden versuchen. Am 23. Juni 2016 beschloss der Bundestag das umstrittene neue Kulturgutschutzgesetz. Es soll sicherstellen, dass Werke, die als »national wertvolles Kulturgut« gelten (und als »identitätsstiftend für die Kultur Deutschlands«, weshalb ihre »Abwanderung einen wesentlichen Verlust« darstellen würde), in Deutschland bleiben. »Die Kulturnation Deutschland«, so Kulturstaatsministerin Monika Grütters, »muss weiterhin die Möglichkeit haben, national wertvolles Kulturgut mit einer herausragenden und identitätsstiftenden Bedeutung zu bewahren.« Grütters zerstreute allerdings Bedenken, über das Gesetz könnten deutsche Kunst und Kunstwerke, die sich in Privatbesitz befinden, verstaatlicht werden. »Schutz heißt in meinen Augen nicht Enteignung.«9
Im Jerusalemer Gerichtssaal machte die Anwaltsdebatte darüber, wo Schutz aufhört und Enteignung anfängt, deutlich, dass der Anspruch des jüdischen Staates auf Kafka nicht nur von dessen Bekenntnis zum Judentum abhing, sondern dass Israel ihn auch darüber definieren musste, was Kafka nicht sei, nämlich