Die Sonne fiel jetzt direkt in Faradays Gesicht. Er kniff nicht die Augen zusammen, doch hatte er begonnen, ein wenig zu kauen, was auch immer er da kauen mochte; es sah qualvoll aus. Crookes sah ihm eine Weile zu. Er ertappte sich dabei, wie er prüfte, ob Faradays Person dem Licht widerstand. Ob er, wie jeder andere Festkörper, einen Schatten warf.
»Mr. Maxwell spintisiert seit jüngstem ganz haltlos über den lichttragenden Äther«, sagte Crookes zu den Sonnenstäubchen, »und ich sagte einmal in Gesellschaft, ich verstünde ihn nicht, weil er spreche wie ein schottischer Viehhirt, doch verstehe ich ihn deshalb nicht, weil er alles berechnet und ich nicht rechnen kann.«
William Crookes perspirierte und sein Puls jagte. Wenn nun Mrs. Faraday erschiene, wie peinlich es wäre, wenn sie ihn derart ins Leere hinein lamentieren hörte. Crookes stand auf und schob den eisernen Rollstuhl in den Schatten.
»Mir graut es vor Ihrem vierten Aggregatzustand, Faraday!«
Faraday hatte aufgehört zu kauen und blickte nun ratlos auf die Gardine.
»Und wenn ich die Spektrallinien denn magnetisch zerteilt bekäme«, sagte Crookes, »so wüsste ich noch längst nicht, wie das zugeht, und wer weiß, was sich in Molekülen und Atomen noch alles befindet und welche Zwischenräume dort sind und was in dieser Leere vielleicht noch alles sich aufhält und regt, und wer weiß, was wir alles versäumen, und davor graut es mir auch.«
Er nahm das Kännchen in die Hand, drehte es und schaute hinein. Tee befand sich im Kännchen.
»Ich evakuiere Kolben auf immer höhere Drücke«, sagte Crookes, »bis der Grad der Entleerung so weit getrieben ist, dass nur noch selten Moleküle aneinandergeraten, und dann jage ich den Induktionsfunken hindurch.«
Er steckte den Zeigefinger in Faradays Tee.
»Es ergeben sich Anomalien. Ich verstehe sie nicht.«
Da kam Mrs. Faraday. Crookes danke ihr sehr, sie erwiderte seine Höflichkeiten. Die Krankenschwester kam, ein weißes Tuch überm Arm und neuen Tee in der Kanne. Crookes verbeugte sich. Professor Faraday blickte ins Licht. Dann kaute er ein wenig, was auch immer er kaute, und dann schlug er die Augen nieder und sagte »nein, nicht gelungen«, mit seiner sanften, glücklichen Faraday-Stimme.
Knapp zwei Monate nachdem William Crookes Professor Faraday in Hampton besucht hatte, starb Crookes’ jüngster Bruder Philip, der sich bei der englischen Kautschuk-, Guttapercha- und Telegraphengesellschaft in Ausbildung zum Ingenieur befand und erst einundzwanzig Jahre zählte. In Diensten auf dem Kabelschiff SS Narva hatte er sich, wie auch dreizehn seiner Kameraden, bei einem Landgang in Havanna mit dem Gelbfieber angesteckt. Der Schiffsarzt lieferte einen Bericht ab, der auch in Crookes’ Hände kam. Darin war mit Datum und Uhrzeit beschrieben, wie der Junge, der ein einfacher, fröhlicher Mensch war, binnen zehn Tagen auf hoher See zwischen Kuba und New York verreckte, die Lippen mit blutigen Pusteln, die Zunge mit gelbem Pelz bedeckt, delirierend, unter schwarzem Erbrechen. Es gab keine Bestattung. Nelly Crookes bestellte Krepp und Schleier.
Auch Faraday war gestorben. William Crookes verstand, dass alle Menschen starben, einer nach dem anderen, er selbst, seine Frau, seine Kinder. Er drohte der Kautschuk-, Guttapercha- und Telegraphengesellschaft mit gerichtlichen Schritten.
II
Im Winter 1869, in ihrem dreizehnten Jahr, stellte Florence Cook fest, dass sie ihre Hände hinter dem Rücken mit derselben Eleganz und Inbrunst zum Gebet falten konnte wie vorne vor der Brust.
Es kostete wenig Anstrengung. Einmal überm Gesäß verschränkt, glitten sie mühelos immer weiter nach oben, bis zwischen die Schulterblätter, und die Schultern blieben bei alledem schön gesenkt, der Hals lang, der Rücken gerade wie ein Besenstiel; und wenn Miss Cook wollte, konnte sie auch die Unterarme bis zu den Ellenbogen zusammenlegen, ohne dass ihr Nachthemd aus der Fasson geriet.
Sie glitt von der Bettkante, kniete auf dem Boden nieder und rollte die Augen nach oben. Von vorne sah sie nun hoffentlich aus wie eine verzückte Armamputierte. Florence wünschte sich sehr einen Spiegel, worin man den ganzen Menschen sah, aber man hatte ihr letzthin sogar ihr Handspiegelchen weggenommen, wahrscheinlich, weil es ungesund war.
Ungesund war das meiste, was Florence im Leben gefiel: Spiegel, Bücher, Windsor-Seife, die Zigeuner von Shoreditch, Sonne, Schnee, Toast mit Butter und Marmelade und gewiss auch all ihre anderen Neigungen, von denen niemals jemand erfuhr. Vielleicht war sie darum auch dauernd krank. Florence Cook hatte einen Großteil ihrer Kinder- und Mädchenjahre im Siechenbett verbracht, in diesem Bett, unter diesem Schutzengelbild, in diesem Zimmer, in diesem grauen Backsteinhaus mit weißen Fensterläden in der Eleanor Street im besseren Teil von Hackney.
Vater war Korrektor in einer Druckerei in der Fleet Street. Er fuhr jeden Tag mit der Eisenbahn in die City. Mutter war Mutter. Die kleine Schwester hieß Selina. Das Hausmädchen Lizzie ging Mutter zur Hand und brachte Florence ihre Medizin, die Brustpastillen, die Krampftinktur, Browne’s Chlorodyne und Santoninpillen mit Rizinus, was keine Freude war. Florence spreizte kniend die Beine und senkte ihr Hinterteil, bis sie zwischen den Fersen saß. Noch immer beteten die Hände hinten. Sie legte den Kopf in den Nacken und hob langsam das Becken. Nun tat es weh. Weiter und weiter hob Florence ihr Becken und bog dabei entschlossen den Rücken durch. Ihr Zopf streifte den Boden. Ihre Oberschenkel begannen zu zittern. Doch sie bog und bog sich, bis ihr Hinterkopf die kalten Bohlen berührte, und noch immer waren die Hände hinterm Rücken gefaltet.
Eine Weile verharrte sie in dieser Verrenkung. Sie fragte sich, ob sie hier Außergewöhnliches leistete. Die Zigeuner von Shoreditch – die sie wohlgemerkt erst ein einziges Mal und auch nur aus der Ferne gesehen hatte – wüssten gewiss, dachte Florence, wie diese Übung zu bewerten wäre, ob jeder Zweite das konnte, jeder Dritte, jeder Zehnte oder kaum einer außer Florence Cook. Die ungesündeste aller Neigungen dieses Mädchens, das laut Arzt über einen ›recht wachen Geist‹ verfügte, war die Sehnsucht danach, berühmt zu werden. Das überlegte Florence nun wieder, während ihre Finger langsam ertaubten und der umgedrehte Schutzengel vor ihren Augen zu verschwimmen begann: wie man berühmt wird. Sie stieß einen gepressten Seufzer aus. Alles war schon erwogen. Nie kam dabei etwas heraus. Das neue Talent, das sich hier entfaltete, war wohl auch nicht der Weg zum Ruhm.
Florence schloss einen Moment die Augen und stellte sich vor, als Dame ohne Knochen auf Jahrmärkten präsentiert zu werden, willfährig und willenlos, ein Kuriosum, das man herbeiträgt und hinstellt oder hinlegt und dann, nach dem Applaus, gleichgültig und ohne Dank wieder in das Zelt zurückbringt, worin man es zwischen den Präsentationen verwahrt. Sie spürte diesem Gedanken nach, der sich mit dem Schmerz in ihren Gelenken vermischte. Schließlich entknotete sie sich. Sie saß auf dem Boden und dachte nach. Dann krümmte sie sich vornüber und rollte sich ganz ein. Mund und Nase berührten den Boden und beide Fersen die Ohren. Dann legten sich die Fußballen im Nacken zusammen. Florence wickelte ihren Zopf um die Zehen. Nun holte sie die Füße wieder nach vorne, schob die Ellbogen unter die Kniekehlen und versuchte auf den Händen zu stehen, was zunächst gar nicht, dann erstaunlich gut gelang. Warum hatte sie das nicht schon früher probiert? Warum heute diese neue Erkenntnis? Wenn ich dieserart bis zum Milchmann liefe, dachte Florence, würde ich berühmt in ganz Hackney. Da musste sie lachen. Da fiel sie um. Ein Mädchen aus London-Ost, wusste Florence, wird nicht berühmt. Auch wenn es biegsam und hübsch ist. »Ihre Florrie wird eine Hübsche werden«, hatte der Arzt zu Mutter gesagt, und es hatte bedrohlich geklungen. Kaum eine ist so hübsch, wusste Florence, dass sie deshalb berühmt wird. Und wenn doch, geht es moralisch schief. Das heißt dann ›berüchtigt‹.
Florence Cook war schmal und zart, mit blassem Teint und einem tragischen Zug um den Mund. Ihr Profil, mit etwas markanter Nase, hätte gut zum Scherenschneiden getaugt. Das Haar war heller