Die böhmische Großmutter. Dietmar Grieser. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dietmar Grieser
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги о Путешествиях
Год издания: 0
isbn: 9783903083905
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die biedere Provinzstadt unsicher machen. Besonders Freund Osen, der bei jeder Gelegenheit mit seinen Englischkenntnissen prahlt und sich vor den Statuen des Schloßgartens als Pantomime produziert, erregt heftiges Kopfschütteln, und als Schiele dann auch noch bei einem spektakulären Experiment mit einem eilends konstruierten Flugapparat mittut, der vom Kreuzberg aus in Richtung Stadt segeln und auf einem der nahen Wiesengründe niedergehen soll, schlägt die anfängliche Neugier der Krumauer in unverhohlene Schadenfreude um: Das Abenteuer ist kläglich gescheitert.

      Umso ansehnlicher ist der künstlerische Ertrag von Schieles Krumau-Aufenthalt: In einer Vielzahl von Bleistift-, Kreide- und Kohlezeichnungen, Aquarellen und Ölbildern hält der Zwanzigjährige die pittoreske Stadtlandschaft fest; Zug um Zug entstehen Meisterwerke wie »Häuser an der Moldau« und »Stadt am blauen Fluß«, »Dämmernde Stadt«, »Gewitterberg«, »Krumau bei Nacht«. Allerdings ist nicht daran zu denken, in einer Kleinstadt, die mit Schieles expressionistischer Kunstauffassung wenig anzufangen weiß, Käufer zu finden: Um seinen Lebensunterhalt zu finanzieren, ist Schiele auf Vorschüsse aus Wien angewiesen, wo sein Förderer Arthur Roessler und eine Reihe weiterer Kunstfreunde für Abnehmer sorgen. Damit beim Transport der fertigen Bilder keine zu hohen Frachtkosten anfallen, wird ihm geraten, »handliche« Formate zu wählen – es sind vorwiegend Holzbretter von 30 mal 40 Zentimeter Größe.

      Unter den wenigen Einheimischen, die an Schieles Arbeit interessiert Anteil nehmen, ja ihm selbstlos zur Hand gehen, nimmt ein Gymnasiast namens Willi Lidl eine besondere Stellung ein: Der zwei Jahre Jüngere, der dem von ihm angehimmelten Künstler vor allem bei der Suche nach einem Krumauer Dauerquartier behilflich ist, vernachlässigt über seiner Schiele-Schwärmerei so sehr den eigenen Unterricht, daß er deswegen von der Schule fliegt. »Ich lebe nur für Dich«, schreibt er in einem seiner verzweifelten Briefe, und er fährt fort: »Hast Du mich lieb? Gib mir Gewißheit, sonst geschieht ein Unglück.«

      Das Unglück tritt tatsächlich ein: Egon Schiele, seit kurzem mit dem ehemaligen Klimt-Modell Wally Neuzil liiert, kann auf die eindeutig homoerotischen Signale seines jugendlichen Verehrers nicht eingehen, die Beziehung zwischen den beiden kommt ins Stocken, Willi Lidl scheitert auf allen Linien, wird schwer krank, stirbt mit neunundzwanzig.

      Was mich an der Schiele-Stadt Krumau vorrangig interessiert, ist jenes Schicksalsjahr 1911, in dem der Einundzwanzigjährige, vorübergehend nach Wien heimgekehrt, aufs neue und nunmehr endgültig in der Geburtsstadt der Mutter Fuß zu fassen versucht. Ich statte also dem in den Räumen der ehemaligen Stadtbrauerei in der Breitegasse installierten Schiele-Zentrum den obligaten Besuch ab, decke mich in dessen reich bestücktem Shop mit Reproduktionen der »Toten Stadt« und all der anderen örtlichen Schiele-Motive ein und suche in dem ebenfalls dazugehörigen Bistro-Café Stärkung (verwundert registrierend, daß Speise- wie Getränkekarte noch immer an der aus den Tagen der kommunistischen Planwirtschaft erinnerlichen Übung festhalten, bei jedem Posten die betreffende Materialmenge anzuführen, also im Fall meines »Türkischen« dessen 7 Gramm Kaffee).

      Nun also fit für den auf Schieles »Adressen« und Bildmotive abgestimmten Rundgang, lasse ich die Schönheit der »Krummen Au« auf mich wirken – die vielerlei Krümmungen der die Stadt umschlingenden Moldau haben dem Ort einst seinen Namen gegeben. In den engen und eng verschachtelten Gassen der geschlossensten Renaissancestadt nördlich der Alpen drängen sich zu jeder Jahreszeit die Touristenmassen, und gar bei der Besteigung des Schloßturms, der eine der größten Burganlagen Europas krönt, geht’s so gut wie nie ohne Stau ab. Hier hat auch Schiele oft und oft Posten bezogen, um auf die Stadtlandschaft zu blicken und das Geschaute in Skizzen, Zeichnungen und Bilder umzusetzen; Franz Wischins opulentes Standardwerk »Egon Schiele und Krumau« ist mit einer genauen Konkordanz der tschechischen und deutschen Straßennamen ausgestattet, die es dem Schiele-Spurensucher leichtmachen, sich zurechtzufinden. Nur die Hausnummern bereiten Schwierigkeiten, haben sich im Lauf der Zeit geändert. Fischergasse Nr. 40, laut Marie Soukups Geburtsschein das Elternhaus von Schieles Mutter, ist nicht mit der heutigen Rybarska Nr. 40 identisch – hier wäre also eine Nachfrage auf dem Katasteramt vonnöten. Kein Problem bildet der »Goldene Engel«: Das Hotel auf dem Ringplatz, in dem Schiele in späteren Jahren abgestiegen ist, spielt nach wie vor seine traditionelle Rolle als Luxusherberge. Und auch die Schiele-Adresse Nr. 1, das ominöse Gartenhaus nahe der ehemaligen Schießstätte, aus dem der einundzwanzigjährige Bürgerschreck im Sommer 1911 verjagt worden ist, steht unversehrt an seinem alten Platz.

      Als Schiele im April 1911, vorerst noch allein, aus Wien anreist, um das kleine Terrassengrundstück an der Südschleife der Moldau in Augenschein zu nehmen, tut er dies in der festen Absicht, sich in Krumau auf Dauer niederzulassen. Faktotum Willi Lidl, dem es zum Lebensinhalt geworden zu sein scheint, seinem Idol jeglichen Wunsch von den Augen abzulesen, hat das leerstehende Tuskulum ausfindig gemacht, mit dessen Besitzer, dem Textilhändler Max Tschunko, die Konditionen ausgehandelt und auch die nötigen Ausbesserungsarbeiten in die Wege geleitet.

      Einen Monat später kehrt Schiele wieder, um »das herrliche Sommerhäuschen mit dem dichten Blumengarten«, wie er es in einem Brief an einen seiner Gönner, den Wiener Kunsthändler Oskar Reichel, enthusiastisch schildert, zu beziehen. An seiner Seite ist seine derzeitige Geliebte Wally Neuzil. Das Leben zu zweit in dem zehn Gehminuten vom Stadtzentrum entfernten Idyll läßt sich gut an: Schiele zeichnet und malt wie ein Besessener, Wally kümmert sich um den kleinen Haushalt, und dank Hausbesitzer Tschunkos Generosität, seinen Mietern den Zins zu erlassen, kommt man auch halbwegs mit dem nach wie vor wenigen Geld aus, das man zur Verfügung hat.

      Gefahr droht lediglich von seiten mißgünstiger Kleinbürger, die Schieles exaltierten Lebensstil schon im Vorjahr mit Argwohn beobachtet haben. Wie heißt es so schön in Schillers »Wilhelm Tell«? »Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.« Was mag dann erst sein, wenn der »Frömmste« in den Augen der »bösen Nachbarn« alles andere als fromm ist? Schon, daß ein Mann mit einer Frau in wilder Ehe unter einem Dach zusammenlebt, erregt bei den Krumauer Sittenwächtern Anstoß. Und als sich dann auch noch herumspricht, daß bei Schiele junge Mädchen ein und aus gehen, die dem Künstler in leichtbekleidetem Zustand Modell stehen, ja schließlich sogar der »Skandal« auffliegt, eines von ihnen habe splitternackt vor einem Rosenstrauch in dem von drei Seiten einsehbaren Gärtchen posiert, kocht die Seele der aufgebrachten Moralapostel über, und Hausbesitzer Tschunko, obwohl selbst allem Künstlerischen zugetan und voller Nachsicht gegenüber seinem flotten Mieter, muß dem allgemeinen Drängen nachgeben und Schiele vor die Tür setzen. Acht Tage Frist räumt er ihm ein, dann muß das Gartenhaus geräumt sein.

      Am 30. Juni schreibt Schiele an Arthur Roessler nach Wien:

       » Sie wissen, wie gern ich in Krumau bin, und jetzt wird es mir unmöglich gemacht. Die Leute boykottieren uns einfach, weil wir rot sind. Ich muß bis 6. August ausgezogen sein, will aber schon am 4. fortfahren und zwar nach Neulengbach. Ich bitte Sie, senden Sie mir irgendeinen Betrag; ich muß außerdem einige Kisten transportieren.«

      »Weil wir rot sind« – über diese Formulierung werden die Schiele-Biographen in späteren Jahren die unterschiedlichsten Überlegungen anstellen. Christian Nebehay sieht es so:

      »Als ›rot‹ wurde vor 1914 jeder bezeichnet, der nicht regelmäßig in die Kirche ging. Nach allem, was uns bekannt ist, war Schiele kein politisch Gebundener. Wir glauben vielmehr, sein ›Rot‹ als Gegensatz zu ›Schwarz-gelb‹ deuten zu sollen, den Farben der Monarchie.« Und Franz Wischin ergänzt: »Der Vorwurf, ein ›Roter‹ zu sein, beinhaltete in der Monarchie noch nicht die Gleichsetzung mit einem parteipolitischen Bekenntnis, sondern galt im Volksmund als Synonym für antiautoritär, fortschrittlich, freizügig und unkonventionell.«

      Wie auch immer – die Kündigung ist ausgesprochen, und die Behörde legt noch ein Schäuferl nach, indem sie zwei Polizeibeamte losschickt, die dem Verfemten auch den offiziellen Ausweisungsbescheid aushändigen.

      Schieles Schlußwort, am Tag nach seiner Ankunft in Wien in einem Brief an Arthur Roessler zu Papier gebracht:

       »Ich will nicht an Krumau denken, so lieb habe ich die Stadt. Aber die Leute wissen nicht, was sie tun.«

      Ganz und für alle Zeiten von der »Stadt