Martin kniff die Augen noch stärker zusammen, dann rief er aus: »Es liegt direkt neben einem halben Schiff mit dem gleichen Segel.« Jetzt wurde Martin klar, was er da sah, und es war nicht das, was er zuerst gedacht hatte. Es waren keine Gebäude, es waren nur die Spitzen der Gebäude. Der leere Raum unter ihnen war gar nicht leer. Es waren Spiegelungen in einer riesigen, gekrümmten, verspiegelten Wand. Das Glitzern war keine Magie, es waren Verzerrungen, verursacht durch die Krümmung des Spiegels, und die abgestrahlte Hitze erzeugte eine Luftspiegelung. Die Stadt schwebte nicht über, sondern sie erhob sich aus dem Wasser.
Die Stadt kam nun ziemlich schnell näher. Die fliegende Halbkugel, die Gwen beharrlich als Boot bezeichnete, bewegte sich eindeutig schneller, als man glaubte. Während die Stadt immer größer vor ihnen aufragte, sagte Gwen zu Martin und Phillip gewandt: »Hört mal, Jungs. Ein Letztes solltet ihr noch wissen. Es gibt ein paar Dinge an Atlantis, auf die ich nicht sonderlich stolz bin.«
»Was meinst du?«, fragte Phillip.
»Dazu muss man wissen«, sagte sie, »es ist eine von Frauen beherrschte Gesellschaft.«
»Wir gehen davon aus, dass es anders werden wird«, sagte Martin.
»Tja«, seufzte sie, »na ja, dann geht davon aus, dass es anders wird, als das, wovon ihr ausgeht.«
Beiden war ganz offensichtlich überhaupt nicht klar, was sie damit meinte.
»Ich versuch's mal so«, fuhr sie fort. »Wart ihr jemals in einer Kneipe, in der ein Junggesellenabschied gefeiert wird?«
Beide Männer nickten.
Gwen fragte: »Wart ihr jemals in einer Kneipe, in der ein Junggesellinnenabschied gefeiert wird?«
Wieder nickten beide Männer.
Gwen fragte: »Wo war es durchgedrehter?«
Das Gefährt gewann jetzt an Höhe und überflog die Schiffe, die sich im Umkreis von Atlantis drängten. Händler der griechischen Antike standen auf ihren Schiffen und reckten die Hälse, um sie vorbeifliegen zu sehen.
Als sie sich dem Rand der Wand näherten, meinte Martin: »Gwen, wenn es eine von Mauern umgebene Insel ist, warum sagt ihr immer ›Atlantis, die versunkene Stadt‹?«
Gwen erwiderte: »Du denkst versunken, wie in versunkene Schätze. Es geht mehr in Richtung abgesenkt, so wie abgesenktes Wohnzimmer.«
Das Gefährt erreichte den Rand der Stadt und stieg noch höher. Von oben sah Atlantis aus, als habe jemand ein Loch in den Ozean selbst gegraben. Die Stadt beschrieb einen perfekten Kreis, und während am äußeren Rand hohe Gebäude standen, fiel das Innere des Kreises steil ab und bildete so eine weitere Schale. Sie war ziemlich unregelmäßig und bestand aus Fenstern, Terrassen und Dachgärten. Alle Gebäude waren aus einem glatten, weißen Material, welches zu Flächen geformt war, die mit abgerundeten Kanten verbunden waren.
Schienen zerteilten die Stadt wie einen Kuchen in einzelne Stücke. Breite, flache Aufzüge voller Menschen bewegten sich langsam auf und ab an ihnen entlang. Terrassenartige Fußwege, die voller Fußgänger waren, breiteten sich in regelmäßigen Abständen über die Stadt aus. Dazwischen fanden sich immer wieder öffentliche Plätze, an denen sich die Menschen treffen und die Aussicht genießen konnten.
Phillip und Martin war sofort klar, dass die Außenwand von Atlantis nichts anderes war, als eine weitere molekülreine Diamantenschale, allerdings sehr viel größer als alle, die sie bis dahin gesehen hatten. Der Rand der Stadt schien mindestens einen Meter dick zu sein. Was sie für eine Wand gehalten hatten, war vielmehr der obere Rand der Schale, welcher aus dem Wasser ragte. Gwen bestätigte das und fügte noch hinzu, er sei aus Sicherheitsgründen teilweise versilbert, und natürlich, weil es einfach cooler aussah.
Im Zentrum der Stadt, am tiefsten Punkt der Schale, befand sich ein ausgedehnter Park. Im Zentrum des Parks erhob sich eine Art spitzes Monument. Große, eindrucksvolle Gebäude, verziert mit Kuppeln und Säulen, umgaben den Park auf allen Seiten.
Während ihr Gefährt zur Landung auf das Zentrum der Stadt ansetzte, wurde klar, dass ihr Ziel eines der Gebäude am Rande des Central Parks war. Martin konnte ein flaches Gebäude ausmachen, das aussah wie aus verschiedenen, zueinander rechtwinklig angeordneten Rechtecken zusammengesetzt. Es war, als hätte man das Haus eines wohlhabenden Actionfilmbösewichts genommen und mit Leuchtfarbe bemalt. Wuchtige Glastüren führten auf einen gewaltigen Balkon, auf dem zwei Gestalten strammstanden. Selbst aus großer Entfernung war zu erkennen, dass sie sich in höchster Alarmbereitschaft befanden. Martin fragte Gwen, was ihr Ziel sei.
»Das Privatquartier von Brit der Älteren«, antwortete Gwen.
»Das leuchtet ein«, sagte Martin, »Sicherlich will sie alle Abgesandten persönlich begrüßen.«
Nach kurzen Schweigen sagte Gwen: »Genau genommen, nein. Sie hat ausdrücklich darum gebeten, dass sie vor dem offiziellen Empfang heute Abend keinen der Abgesandten sehen muss. Dann hat sie mich zur Seite genommen und mir aufgetragen, euch beide umgehend zu ihr zu bringen.«
Phillip hörte ihr nicht zu, er war ganz in Gedanken versunken. Er sah hinab auf das wunderschöne Gebäude und schüttelte angewidert den Kopf.
»Typisch. Sie erbaut die Stadt und gibt sich selbst das schönste Haus, mitten im Stadtzentrum.«
Gwen erwiderte: »Das Haus von Brit der Älteren sieht äußerlich anders aus, aber innen drin sieht es fast genauso aus, wie bei jedem anderen auch. Der einzige wirkliche Unterschied ist die Terrasse. Der ist für offizielle Empfänge und dergleichen. Und ja, die Regierungsgebäude sind ziemlich schick, aber sie haben die schlechteste Lage in ganz Atlantis. Denk mal drüber nach. Es geht nach allen Seiten bergauf. Es ist, wie am Boden einer Kohlegrube zu wohnen. Auf allen Seiten überragt vom Rest der Stadt. Brit findet, das verschafft den Stadtoberen die richtige Perspektive.«
»Du magst sie, nicht wahr?«, fragte Martin.
»Fast jeder mag sie.«
»Fast jeder?«
Gwen seufzte. »Tja, nun, Brit die Jüngere ist nicht gerade ihr größter Fan. Wie gesagt, es ist kompliziert.«
Das Gefährt setzte sanft auf der Terrasse von Brit der Älteren auf, einer Fläche in etwa so groß wie zwei Basketballfelder. Anstatt mit Holz oder Stein war die Veranda mit weichem Gras bedeckt. Es war kein einheitliches Grün, vielmehr waren verschiedene Sorten verwendet worden, sodass es wie eine geschmackvolle Einlegearbeit wirkte. Auf drei Seiten wurde die Terrasse von schmalen, schmuckvollen Geländern begrenzt. Die vierte Seite nahm eine makellos weiße Wand ein, in deren Mitte sich große Fenster befanden. Draußen war es sehr viel heller als im Haus, sodass man nicht erkennen konnte, was sich im Haus befand. Die zwei Personen, die Martin während ihres Landeanflugs gesehen hatte, waren eindeutig Wachmänner. Beide männlich, beide groß gewachsen und schlank, aber dennoch muskulös. Mit großartiger Muskeldefinition, das konnte Martin wegen ihrer Bekleidung gut erkennen. Die bestand nämlich aus einer leichten, blauen Tunika aus halbtransparentem Netzstoff und einer Art Kilt aus schwarzem Stoff, der zugleich eng anliegend und robust war. Der Kilt endete über dem Knie und gab so den Blick frei auf kräftige, unbehaarte Beine. Sie trugen Sandalen mit dicken Lederriemen und klobigen Sohlen.
Martin fragte Gwen: »Werden wir auch so was tragen müssen?«
Gwen schmunzelte und betrachtete Martins bodenlanges, paillettenbesetztes Gewand nebst passendem Hut. »Nein, keine Angst. Wenn euch damit wohler ist, könnt ihr eure Roben anbehalten.«
»Du hast die Roben gemacht«, erinnerte sie Martin.
»Ja, aber ihr seid diejenigen, die sich entschieden haben, sie auch zu tragen«, gab sie zurück.
Die verspiegelten Scheiben glitten sanft auseinander und zwei weitere große, schlanke, muskulöse Wachmänner kamen zum Vorschein, zwischen sich eine Frau. Sie sah aus wie Mitte zwanzig und war etwas kurz geraten. Sie war keineswegs übergewichtig, aber sie war sicherlich auch nicht dürr. Sie trug eine Brille mit schwarzem Rand und ein leichtes, hauchdünnes Kleid. Ihr rotbraunes Haar