Martin zuckte mit den Schultern. »Ja, na ja, ich hoffe, ich muss ihn nie wieder einsetzen.«
Jeff öffnete den Mund, um den Grund hierfür zu erläutern. Martin hatte den Spruch nämlich erschaffen, um ihn als eine Art Flugzauber zu verwenden, was aber gründlich schiefgegangen war. Als Jeff jetzt Martins Blick sah, überlegte er es sich anders und schwieg lieber.
Von Weitem drang ein schwaches Tremolo zu ihnen herüber: »Tyyyyyylerrrrrr, biiiiiiteeeeee, steeeeeell eeeees aaaaab!«
Tyler rief: »Stell's doch selber ab. Irgendein anderer Spruch hebt es auf.«
Gary sprach das magische Wort flugi und sofort stieg er bedächtig in die Luft, wo er erst mal eine Weile reglos hängen blieb.
Jeff rief ihm zu: »Hey, Gary, alles klar?«
Gary erhob einen Finger, wie um anzudeuten, dass er sich erst mal sammeln müsste. Er richtete den Finger auf Tyler. »Ekskuzi vin.« Eine leuchtende Kugel löste sich von seinem Finger. Er war ziemlich weit weg und Tyler hatte genug Zeit zu reagieren. Er erhob seinen Stab und schwang ihn wie einen Baseballschläger. Die silberne Rolls-Royce-Kühlerfigur beschrieb einen leuchtenden Bogen in der Luft. Der Stab traf die Kugel, die auf der Stelle zerstob. Tyler hielt am Ende seines Schwunges inne, dann reckte er den Hals, um auf das Ende seines Stabes zu schauen. Dort erblickte er, direkt unterhalb der Kühlerfigur, eine weitere von Garys Furz-Düsen.
Eine halbe Sekunde lang herrschte Stille, dann zündete die Düse. Martin, Roy und Jeff begannen allesamt zu rennen, während Tyler, an seinen Stab geklammert, heftig herumgeschleudert wurde. Bald war von Tyler nichts mehr zu sehen, eingehüllt in einer übel riechenden Wolke aus lila Dampf. Das eiernde Geräusch der Düse und das gelegentliche Aufblitzen von beschleunigtem Chrom waren die einzigen Hinweise auf das, was in so heftiger Weise in der Wolke vor sich ging. Schließlich ließ Tyler den Stab los oder konnte ihn einfach nicht mehr halten. Wie auch immer, der Stab sauste davon, taumelnd wie das Rotorblatt eines Hubschraubers und hinterließ dabei einen lilafarbenen Kondensstreifen.
Tyler lag auf dem Rücken im Gras. Gary ging zu ihm und reichte ihm seine Hand. Er half ihm auf die Füße und sagte: »Wir sind quitt.«
»Vorerst«, erwiderte Tyler.
Roy schüttelte den Kopf und fragte: »Seid ihr Jungs sicher, dass die Sprüche zur Selbstverteidigung sind und nicht doch eher, um euch gegenseitig zu demütigen?«
Gary antwortete: »Ich finde, ein wirklich guter Spruch sollte beides können.«
In diesem Moment erfüllte ein sanftes, zwitscherndes und sich wiederholendes Klingeln die Luft. Die Zauberer neigten alle den Kopf zur Seite. Jeff fragte: »Also gut, wessen Hand ist das?«
Alle außer Roy sahen auf ihre rechte Hand und Martin sagte: »Oh, das bin ich.«
Martin hob seine Hand vors Gesicht. Das verkleinerte, halbdurchsichtige Bild von Phillips Kopf erschien in Martins Hand.
»Martin«, sagte Phillip, »du musst sofort in meinen Laden kommen.«
»Warum?«, fragte Martin. »Was ist los?«
»Ich bin mir nicht ganz sicher, ich brauche deine Hilfe, um das rauszufinden.«
»Ich bin gleich da.«
Gary blickte über Martins Schulter. »Wir sind alle gleich da.«
Phillip verdrehte die Augen. »Ist es zu spät, um zu sagen, dass du allein kommen sollst?«
»Ich komme allein«, erwiderte Martin.
Und Gary sagte: »Wir kommen alle allein.«
Kapitel 6
Kurz darauf wimmelte es von Zauberern in Phillips privatem Rückzugsort. Phillip nannte es sein Allerheiligstes. Die anderen nannten es sein Spielzimmer.
Martin fragte, was los sei. Phillip zeigte zum Tresen seiner Bar. Darauf befand sich eine große Salatschale. Die schönste Salatschale der Welt. Eine perfekte Halbkugel aus dem dünnsten und reinsten Glas, das Martin je gesehen hatte. Die Schale ruhte auf drei Füßen, in Gestalt dreier Delfine aus dem gleichen, unwahrscheinlich reinen Glas.
»Wo hast du die denn her?«, fragte Martin, während er sich der Salatschale näherte.
»Vom Fuß der Treppe«, antwortete Phillip. »Ich saß gerade an wichtigen Vorsitzendenangelegenheiten, als ich ein Klingeln hörte. Als ich nachsehen wollte, fand ich das. Es war keine Nachricht dabei, und bevor jetzt einer fragt, ich habe nachgesehen, und der Satz ›Macht's gut und danke für den Fisch‹ ist nirgends eingraviert.«
»Es hat also jemand das Ding hiergelassen und geklingelt, um dich drauf aufmerksam zu machen?«, fragte Jeff.
»Nein. Ihr wisst, dass niemand ohne meine Erlaubnis hier hochkommt. Deswegen wartet Gary auch unten.« Phillip sah auf den Boden und rief: »Alles lustig da unten, Gary?«
»Nein«, kam die gedämpfte Antwort.
Tyler fragte: »Wo kam dann das Klingeln her?«
Phillip griff in die Schale und nahm eine gläserne Scheibe, von der Größe eines Untersetzers, heraus. Und auch der Glasuntersetzer war der schönste, den Martin je gesehen hatte, aus atemberaubend reinem und wunderschönem Glas. Phillip hielt die Scheibe eine Handbreit über dem Boden der Schale und ließ sie dann los. Als sie aufkam, erzeugte sie einen lauten, klaren und doch irgendwie sanften Ton, der den Raum erfüllte.
Phillip sagte: »Von wem auch immer die Sachen stammen, ich denke, zuerst kam die Schale und dann wurde die Scheibe hinterhergeschickt, ein Stück über der Schale, um meine Aufmerksamkeit zu erregen.« Er reichte Martin die Scheibe. »Und jetzt, um eure Aufmerksamkeit zu erregen, bitte ich euch, dies anzusehen.«
Martin hielt die Scheibe gegen das Licht. Sie wog weniger, als er erwartet hatte und fühlte sich kalt an. Wenn er sie im Licht etwas hin und her drehte, konnte Martin eine Art Piktogramm erkennen, welches ins Glas geätzt war. Es stellte zwei einander zugewandte Figuren in spitzen Hüten dar. Zwischen sich hielten sie mit beiden Händen einen großen Halbkreis. In der Mitte des Halbkreises konnte Martin etwas Rundes erkennen und er war sich sicher, dass es sich hierbei um die Glasscheibe handelte, welche er gerade in seiner Hand hielt. Unterhalb der Figuren stand etwas geschrieben. Es war schwierig, eine derart kleine, zarte Schrift auf durchsichtigem Untergrund zu entziffern, doch Martin erkannte sofort, dass es sich um die Namen Phillip und Martin handelte.
»Und Phillip, was meinst du dazu?«, fragte Martin.
»Wenn mir jemand schaden wollen würde, dann hätten sie mir einfach eine Bombe geschickt, oder etwas Ähnliches.«
»Wenn sie uns nicht beiden schaden wollten«, sagte Martin. »Die Schale zeigt uns gemeinsam, zur selben Zeit, am selben Ort, die Hände am selben Gegenstand.«
»Das ist wahr«, räumte Phillip ein, »aber nichtsdestotrotz fühlt es sich für mich nicht bedrohlich an.«
»Für mich auch nicht. Trotzdem, es könnte gefährlich sein.«
»Stimmt«, sagte Phillip und rief dann: »Okay, Gary, du kannst jetzt raufkommen.«
Gary, Tyler, Jeff und Roy gingen hinter Phillips geliebtem Pontiac in Deckung. Obwohl er aus den Achtzigern stammte, war es der fortschrittlichste Wagen, den Roy jemals zu Gesicht bekommen hatte. Er war nicht beeindruckt. »Sieht aus wie ein Türstopper.«
»Die Mechanik ist auch ungefähr so ausgereift, wie die eines Türstoppers«, fügte Jeff noch hinzu, während sie sich hinter dem Auto zusammenkauerten.
Wie jeder Besitzer eines Fiero, hatte Phillip über die Jahre gelernt, derartige Kommentare auszublenden. Er und Martin standen in der Mitte des Raumes. Phillip hielt die Schale in einem Arm, in der anderen Hand die Scheibe.
Phillip fragte: »Bist du bereit, Martin?«
»Eigentlich nicht«, antwortete Martin. »Aber wir werden es trotzdem tun,