»Äh … i glaub, er hat g’meint, er wär der verlorene Sohn«, wandte die Tochter ein. »Die Sach mit dem Kalberl, die is, glaub ich, eher übertragen g’meint g’wesen.«
»Bist sicher?«, wollte die Oma wissen.
»Ja, scho.«
»Aber an Schuss hat der doch trotzdem. Und was soll des denn hoaß’n? Verlorener Sohn? Wer glabt er denn, dass er wär? I hab nur oan Buam zur Welt bracht, und des is der Roman hier«, stellte die Großmutter mit Nachdruck fest.
»I hab mir die Sach ja a Weile ang’hört, aber es is letztlich doch nur a Haufen Schmarrn g’wesen«, erklärte der Hausherr. »Da hab i eam g’sagt, er soll sich schleichen. Damit er des aa versteht, hab i eam ausdrücklich ang’schafft, das Grundstück zu verlassen.«
»Der is aber ned ganga!«, ergänzte seine Ehefrau. »Immer mehr hat er sich aufg’regt, Sie ham’s ja erlebt. Da hab ich dann bei der Polizei ang’rufen.«
Eichler kehrte zu seinem Kollegen zurück. Sie ließen den Störer auf einem Bänkchen neben dem Stalltor sitzen, traten ein paar Schritte außer Hörweite, und Eichler berichtete.
»Ah … so war des also. Aber außer am Haufen G’schrei is nix weiter passiert?«
»Naa. Und des Kalb war wohl bloß a Anspielung auf den verlorenen Sohn. Was hast du herausg’funden?«
Der Eindruck, den der Kollege Karg von dem Störenfried hatte, war nicht sehr klar. »Er heißt wohl Werner Wollner, wohnt in Ramersdorf in München. Von Beruf ist er Buchhalter, hat er gesagt.«
»Ned gerade die klassische Kundschaft bei Hausfriedensbruch.«
»Ich hab scho alles erlebt. Dieser Buchhalter is aber, so scheint’s, a bisserl neben der Spur. Sagt, dass er erst kürzlich erfahren hat, dass er der Halbbruder von dem Herrn Bichler sei. Und er hat sich nun als Verwandter vorstellen wollen, dass er die Familie kennenlernt, zum Kontakt herstellen. Die Familie wär aber so bös gegen ihn g’wesen, hätt ihn so wüst beschimpft und davonjagen wollen, dass er schier verzweifelt ist. So ist jetzt seine schöne Familienzusammenführung g’scheid nach hinten losgegangen.«
»Ansonsten?«
»Er riecht nicht nach Alkohol, hat uns aber trotzdem ins Rohr gepustet. Auch den Drogenschnelltest hat er gemacht. Beides ist ohne Befund. Trotzdem … ganz sauber is der Kerl ned, wenn du mich fragst.«
Sie gingen zu Wollner zurück. Karg setzte sich zu dem Mann auf die Bank.
»So, Herr Wollner. Mein Kollege hat mit den Bichlers gesprochen. Die haben Ihnen das Betreten des Grundstücks untersagt. Das ham Sie doch verstanden? Nicht wahr?«
»Ja, das haben sie gesagt. Aber ich gehör doch dazu. Ich bin doch auch Familie. Das kann doch nicht sein.«
»Ich weiß nicht, ob Sie mit den Bichlers verwandt sind. Das spielt aber auch gar keine Rolle. Sie haben den Hausherrn gehört. Und auch ich erteile Ihnen jetzt hiermit einen Platzverweis. Sie wissen, was das heißt? Sie müssen das Grundstück jetzt verlassen.«
»Ich soll gehen?«
»Sie müssen gehen«, sagte Eichler. »Und Sie dürfen das Grundstück auch nicht wieder betreten. Was ham S’ denn eigentlich erreichen wollen, Herr Wollner?«
»Dass sie mich akzeptieren. Nur das. Dass ich auch a Familie hab. Dass ich dazugehöre. Das wollt ich. Weil … das ist nämlich wichtig.«
»Sie haben doch sicher eine eigene Familie. Gehen S’ halt dahin zurück!«
»Ach, da ist bloß meine Frau. Die ist zwar lieb und alles. Aber die versteht mich ned.«
»Nun, die Familie Bichler versteht Sie im Moment auch nicht, und sie möcht Sie nicht hier haben. Wenn Sie bleiben und weiter Ärger machen, werden Sie sie sicher nicht überzeugen.«
Die Polizisten sprachen geduldig und ruhig mit Wollner, doch der ließ sich nur langsam überreden, den Hof zu verlassen.
Trotzig stellte er seinen Wagen gegenüber an den Straßenrand und starrte über den Asphalt hinüber, während die Polizisten die Familie Bichler informierten. Als sie vom Hof fuhren, stand Wollner immer noch dort. Eichler stieg aus und ging zum Fahrzeug hinüber.
»Wollen S’ nicht heimfahren?«, fragte Eichler. »Zu der Familie, die Sie schon haben?«
»Da mag ich nicht hin. Die hier mögen mich nicht. So wie es scheint, kann mich gar keiner nicht leiden. Aber hier ist öffentlicher Raum. Hier darf ich sein. Und drum bleibe ich hier.«
»Herr Wollner, ich hab nichts gegen Sie. Aber was bringt es, wenn Sie hier hinüber schauen?«
»Ach was! Sie mögen mich auch nicht, sonst würden Sie nicht zu den Bichlers halten. Sie sind parteiisch. Das hab ich schon gemerkt.«
»Ich bin nicht dazu da, den Bichlers zu helfen – oder Ihnen. Das ist nicht meine Aufgabe. Auch zum Frieden stiften bin ich nicht da. Ich soll nur für Recht und Ordnung sorgen. Und als Hausherr hat Herr Bichler das Recht, Sie vom Hof zu weisen.«
»Und was ist mit meinen Rechten?«
»Auch für Ihre Rechte werde ich mich einsetzen. Aber Sie haben kein Recht auf Familienanschluss. Selbst wenn Sie mit den Bichlers verwandt sein sollten.«
»Ich bleib da.«
»Ich kann es Ihnen nicht verwehren. Aber wir haben Ihre Personalien. Wenn die Bichlers sich von Ihnen verfolgt oder belästigt fühlen, sehen wir uns wieder. Tun Sie sich doch bitte einen Gefallen. Fahren Sie heim. Vielleicht schreiben S’ Bichlers einen netten Brief und erklären, was Sie möchten.«
1.12.1957
Franziska goss das letzte Wasser aus dem Kessel in den Porzellantrichter, strich eine ihrer widerspenstigen Locken aus dem Gesicht und sah zu, wie das Wasser im Kaffeesatz versickerte. Nun endlich stellte sie die Kanne zum Rest vom edlen Rosenthal auf das Tablett und trug dann alles hinüber in die gute Stube, wo ihre Großmutter die Familie zum Kaffeetrinken geladen hatte.
Die Arbeit blieb natürlich an Franziska hängen. Seit den schlimmen Bombennächten im April ’44 wohnten Mama und sie im rückwärtigen Zimmer bei ihrer Großmutter. Das Haus, in dem sie mit den Eltern gewohnt hatte, war von einer Bombe getroffen worden, ausgebrannt und in sich zusammengestürzt. Eineinhalb Tage waren sie im Keller verschüttet gewesen. Dann waren sie zu ihrer Großmutter gezogen. »Fürs Erste« hatte es geheißen. Doch ihr Vater blieb im Krieg vermisst. Als Ehefrau eines Vermissten bekam Franziskas Mutter natürlich keine Pension und war fast mittellos. So wurde aus dem Provisorium eine Dauereinrichtung.
Mama zeigte sich sehr dankbar und sagte stets, dass sie es viel schlimmer hätte treffen können. Das war nicht ganz falsch. Die Fünf-Zimmer-Wohnung der Großmutter war natürlich groß genug, und auch für sie war die Lösung von großem Vorteil. Die Zeiten, da sich die Witwe eines gehobenen Postbeamten ein Hausmädchen leisten konnte, waren vorbei. Statt Miete zu zahlen, hatte Mama stillschweigend den Großteil der Hausarbeit übernommen.
Dennoch hatte dieses Arrangement einen hohen Preis. Mama und auch Franziska selbst waren schleichend immer weiter unter die Knute der strengen Großmutter geraten. Nach all diesen langen Jahren sah sich die alte Dame als der Familienvorstand und herrschte absolutistisch, gelegentlich auch tyrannisch über ihre Lieben. Ihre Schwiegertochter behandelte sie eher wie eine Hausangestellte und versuchte dies auch bei Franziska.
Auch Franziskas Tante Iris, stolze Kriegerwitwe, konnte sich der Herrschsucht ihrer Mutter nicht komplett entziehen, litt aber weniger darunter. Als Postbeamtenwitwe mit Pension bewohnte sie eine etwas kleinere Wohnung zwei Häuser weiter und war finanziell unabhängig. Schleichend war sie aber ihrer Mutter immer ähnlicher geworden. Nun saß sie neben der Patriarchin am Kaffeetisch, während ihre Schwägerin den Tisch deckte und Franziska den Kaffee auftrug.
Als die erste Kerze am Adventskranz brannte, fragte die Tante: »Sag, Franziska, ist dein Kleid eingelaufen? Ich meine,