Und so erfuhren Julia und Bärbel Clasen, daß Roland mit Marion Seifert damals eine kurze Affäre hatte, die schnell wieder vorüber war. Seitdem hatte Roland die Frau nie wieder gesehen.
»Vor zwei Wochen traf ich Marion zufällig in Bern wieder. Ich war dort auf einer Fachmesse – man muß ja heutzutage immer auf dem laufenden sein. Als ich dann eines Mittags ein Restaurant besuchte, lief mir Marion über den Weg. Sie sagte, daß sie seit einiger Zeit in Bern lebt und eine gutbezahlte Stellung als Sekretärin gefunden hat. Tja, und dann gestand sie mir, daß unser damaliges Verhältnis nicht ohne Folgen geblieben war. Ich war zuerst wütend, daß sie mir davon nicht früher etwas gesagt hatte, dann habe ich mich gefreut, so plötzlich Vater eines fünfjährigen Sohnes geworden zu sein. Doch als ich fragte, wann ich den Jungen denn mal kennenlernen dürfte, gestand sie mir, daß sie aus Geldnot das Kind weggegeben hatte. Sie wußte noch nicht einmal, in welchem Waisenhaus er ist, hier in der Stadt gibt es ja noch zwei kleinere Heime.«
»Wie haben Sie herausgefunden, daß Kevin bei uns ist?« fragte Frau Clasen. Was der Mann da erzählte, klang plausibel, er wußte den vollen Namen der Mutter und das genaue Geburtstatum von Kevin.
»Ich bin einfach zum Jugendamt gegangen, als ich von der Geschäftsreise zurückgekommen war. Zuerst wollte man mir keinerlei Auskünfte geben, aber ich habe schließlich doch erfahren, daß mein Sohn hier bei Ihnen ist. Kann ich ihn jetzt sehen?« Roland Westermann sah die Heimleiterin bittend an. Die hatte den sympathischen Mann mittlerweile ins Herz geschlossen, auch Julia empfand so etwas wie Zuneigung zu ihm.
Als er sie ansah, stellte sie entzückt fest, daß er dieselben sanften braunen Augen wie Kevin hatte.
Doch nun war es an der Zeit, Roland zu erzählen, daß sein Sohn spurlos verschwunden war.
Er sah erschrocken auf.
»Das ist doch nicht möglich!« stammelte er. »Da weiß ich gerade, daß ich ein Kind habe – und muß feststellen, daß es nicht mehr da ist.«
»Die Polizei tut alles, um den Jungen zu finden«, sagte Julia schnell. »Glauben Sie mir, wir sind alle vollkommen verzweifelt, daß er einfach weggelaufen ist.«
»Aber weshalb ist er ausgerückt?« wollte Roland wissen. »Hatte er einen Grund dafür?«
Bärbel Clasen stand auf. »Ich glaube, das kann Ihnen Frau Moser besser erklären – Kevin ist nämlich ihr erklärter Liebling. Ich gehe in der Zwischenzeit mal Kaffee holen.«
»Was meinte sie damit?« fragte er verwundert, als die Heimleiterin das Büro verlassen hatte.
»Kevin ist mir irgendwie ans Herz gewachsen«, sagte Julia nach einer kleinen Pause. »Er ist so ein lieber kleiner Junge – das soll aber nicht heißen, daß mir die anderen Kinder hier egal sind«, fügte sie hinzu. »Aber Kevin wirkt immer so traurig, ich habe ihn oft dabei beobachtet, daß er am Fenster saß und einfach nach draußen blickte. Als ich ihn danach fragte, meinte er ernsthaft, er warte darauf, daß seine Mutter kommt und ihn nach Hause holt.«
»Marion? Davon hat sie mir gar nichts erzählt!«
»Das hat sich der Junge doch auch nur eingebildet. Sie hat sich nie um ihn gekümmert. Kevin weiß überhaupt nicht, daß Frau Seifert nie kommen wird. Aber er hat sich so verzweifelt danach gesehnt, daß sie kommt.«
»Das ist ja schrecklich – und ich habe nichts davon gewußt!«
»Wie konnten Sie auch?« Am liebsten hätte Julia tröstend die Hand auf die Schulter des Mannes gelegt, aber das traute sie sich dann doch nicht. »Sie wußten doch gar nichts von Kevins Existenz.«
»Und weshalb ist der Junge jetzt weggelaufen?« fragte er nach einer Weile.
»Das können wir nur vermuten. Wir nehmen an, daß er sich auf eigene Faust auf die Suche nach seiner Mutter machen will.«
»Um Himmels willen!« entfuhr es ihm. »Und Sie sagen, daß es bisher noch keine Spur von ihm gibt?«
Julia schüttelte den Kopf. »Lesen Sie denn keine Zeitung? Gestern stand in allen Tageszeitungen in der Gegend eine Suchanzeige von ihm.«
»Nein, aber ich mußte nach meiner Rückkehr aus der Schweiz noch einmal für ein paar Tage fort. Vorher war ich beim Jugendamt, aber die wußten wohl noch nichts von dem Vorfall, sonst hätten sie mich wohl unterrichtet.«
»Kevin ist genau an seinem Geburtstag weggelaufen.« Julia dachte flüchtig an das vergessene Geschenk in ihrem Spind. »Ich wollte ihm eine zusätzliche kleine Freude machen. Ich hoffe, ich kann ihm nachträglich sein Geschenk überreichen.« Sie konnte nicht verhindern, daß ihr heiße Tränen in die Augen traten. Ohne zu überlegen, nahm Roland die zarte Frau in die Arme.
»Oh, störe ich?« fragte in diesem Moment Bärbel Clasen, die lautlos mit einem Tablett ihr Büro betreten hatte. Wie ertappt fuhren die beiden auseinander, peinlich vermieden sie es für den Rest der Unterhaltung, sich in die Augen zu sehen…
*
»Komm Circe, fang den Ball!« Kevin ließ den kleinen Gummiball rollen und die rabenschwarze halbwüchsige Katze flog förmlich hinterher, um ihn noch zu erwischen, bevor er unter den Schrank rollte.
Waltraud Schröder saß mit einer Handarbeit und einer weiteren Katze auf dem Schoß in ihrem Schaukelstuhl und sah belustigt auf das ungleiche Pärchen. Was für einen lieben Jungen hatte ihr da der liebe Gott beschert! Die meisten Kinder ärgerten und quälten ihre Katzen, wenn sie an dem abgelegenen Haus vorbeikamen und eines der Tiere ihren Weg kreuzte. Aber dieser Kevin war ganz anders – und das hatten auch die Katzen gemerkt!
Vor allem die kleine Circe hing Kevin ständig am Hosenbein, sogar nachts schlief sie dicht an ihn gedrängt mit in seinem Bett.
Auch Kevin hatte sein Herz an die schwarze Katze verloren. Der Gedanke, seine Mutter zu suchen, war in weite Ferne gerückt. Ja, irgendwann würde er schon suchen – aber noch nicht gleich. Bei Frau Schröder war es so schön, daß er am liebsten gar nicht mehr fortgegangen wäre. Er stellte sich vor, daß sie seine Großmutter wäre. Wenn er schon nicht bei seiner Mutter sein konnte, dann wenigstens bei Frau Schröder.
Der Garten war verwildert, aber man konnte herrlich darin spielen, er glich einem verwunschenen Park. Manchmal wünschte sich Kevin, daß Philipp zum Spielen kommen würde. Es ließ sich so toll im Garten spielen. Kevin stellte sich vor, es wäre ein Prinz, und Circe eine verwunschene Prinzessin; gemeinsam bestanden sie spannende Abenteuer…
*
»Ich werde heute abend mit dem Wagen die Straßen abfahren«, sagte Roland Westermann am vierten Tag nach Kevins Verschwinden zu Julia. »Haben Sie Lust, mich zu begleiten?«
»Ja, gern«, sagte sie sofort. Roland war seit seinem ersten Besuch jeden Tag im MARIENKÄFER. Natürlich machte er sich große Sorgen um seinen Sohn, den er noch nie gesehen hatte, aber es zog ihn noch etwas anderes dorthin. Anfangs hatte er geglaubt, daß er sich zu Julia hingezogen fühlte, weil sie die engste Bezugsperson von Kevin war – aber das stimmte nur zum Teil. Doch an etwas anderes zu denken, war im Moment nicht der richtige Zeitpunkt.
»Müssen Sie denn gar nicht in Ihr Geschäft?« fragte Julia, als sie gegen Abend gemeinsam in Rolands Auto stiegen.
»Zum Glück habe ich fähige Mitarbeiter, die den Laden schmeißen. Ich bin ja auch sonst oft unterwegs, da bin ich froh, daß ich mich auf meine Angestellten hundertprozentig verlassen kann.«
Es war noch hell draußen, und beide starrten angestrengt durch die Windschutzscheibe. Sowie ein Kind auftauchte, klopfte Julia das Herz bis zum Hals – doch Kevin war nicht dabei.
Roland lenkte den Wagen sogar in den nahen Stadtwald, fuhr die schmalen Waldwege ab, obwohl diese eigentlich nur von Forstfahrzeugen benutzt werden durften, wie ein großes Schild mitteilte.
»Kevin wird sich doch nicht im Wald verlaufen haben?« fragte Roland ängstlich.
Doch das glaubte Julia weniger. »Ich denke, er hält sich irgendwo in der Stadt auf.