Julia stand zögernd auf. Sie glaubte nicht, daß Kevin ihr so vertraute, daß er ihr alle kleinen Geheimnisse erzählen würde. Doch es stimmte, daß der Junge ihr gegenüber etwas aufgeschlossener war als bei den anderen Erzieherinnen, die sich im übrigen genauso große Mühe mit ihm gaben wie Julia.
»Gut, ich werde es versuchen. Mal sehen, ob er immer noch in seinem Zimmer hockt.«
Sie wurde beinahe von den beiden kleinen Mädchen umgerannt, die auf dem Gang Fangen spielten. Lachend schickte sie sie in den Garten, dann machte sie sich auf die Suche nach Kevin.
Er war nicht mehr in seinem Zimmer. Julia sah, daß seine Jacke fort war – ebenso wie der abgenutzte Teddy, den er mal vom Heimpersonal zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte.
Im weitläufigen Garten des Heimes wurde Julia schließlich fündig. Kevin saß auf einer Schaukel, mit dem Bären auf dem Schoß.
»Ach, da bist du ja!« rief Julia betont fröhlich und eilte auf ihn zu. »Ich habe dich schon gesucht.«
Kevin machte ein erstauntes Gesicht. »Wieso? Habe ich was angestellt?«
»Ach was. Ich möchte nur mal mit dir reden, hast du auf der Schaukel noch ein kleines bißchen Platz für mich?«
Bereitwillig rückte Kevin zur Seite, schien aber nicht sonderlich erpicht darauf zu sein, sich mit Julia zu unterhalten.
Eine Weile saßen sie stumm da; Julia suchte fieberhaft nach den richtigen Worten. Es war so schwer, den Anfang zu machen. Schließlich fragte sie: »Du wartest also auf deine Mutter, ja?«
Kevin nickte nur, was Julia auch nicht weiterbrachte. Sie wollte dem Kleinen auf gar keinen Fall weh tun, wußte aber nicht, wie sie dies vermeiden sollte.
»Hm«, machte sie, »woher willst du wissen, daß deine Mutter herkommt?«
Nun ging ein Ruck durch Kevins zarten Körper. »Ich weiß es eben!«
Julia zuckte erschrocken zusammen – solch einen Gefühlsausbruch hatte sie nicht erwartet. Vorsichtig stellte sie daher die nächste Frage: »Und woher weißt du das?«
»Weil die anderen Kinder auch geholt werden – ich hab’ das schon oft gesehen! Die Eltern kommen her und nehmen sich ihr Kind. Eines Tages wird auch meine Mutter kommen!«
Daher wehte also der Wind! Kevin hatte die Kinder gesehen, die Adoptiv- oder Pflegeeltern gefunden hatten und war nun der Meinung, daß dies die leiblichen Eltern gewesen sein mußten.
Wie sollte Julia ihm dies erklären? Konnte oder durfte sie ihm die Wahrheit schonungslos ins Gesicht sagen?
Um etwas vom Thema abzulenken, sagte sie: »Du redest immer nur von deiner Mutter – was ist mit deinem Vater? Hat du nach ihm kein Verlangen?«
Kevin setzte eine gleichgültige Miene auf. »Weiß nicht. Ich habe mal gehört, daß Frau Clasen gesagt hat, daß der Kevin Seifert keinen Vater hat – und der Kevin Seifert bin ich doch, oder?«
»Ja, sicher bist du das!«
»Aber eine Mutter, die hat jedes Kind, nicht wahr? Auch ich habe eine, und auf die warte ich jetzt.«
Damit war für Kevin das Gespräch beendet. Er sprang vom Sitz der Schaukel und ging langsam zum Haus zurück, ohne sich noch einmal umzudrehen. Julia blickte ihm mit sorgenvoll gerunzelter Stirn hinterher. Sie mußte noch einmal mit Frau Clasen über Kevin sprechen. Stimmte es tatsächlich, daß Kevins Vater unbekannt war?
*
»Ja, das ist richtig. Es tut mir leid, daß der Junge dies mitgehört hat. Glauben Sie mir, Julia, das war nicht meine Absicht.« Man sah Bärbel Clasen an, daß ihr dieser Vorfall ehrlich leid tat. »Ich weiß gar nicht, wie mir das passieren konnte.«
Am liebsten hätte Julia tröstend ihren Arm um die Heimleiterin gelegt, die alles dafür tat, daß sich die Kinder wohlfühlten.
»Machen Sie sich doch nichts daraus«, sagte Julia. »Kinder hören öfters mal etwas, was sie besser nicht hören sollten. Viel schlimmer wäre es gewesen, wenn Kevin erfahren hätte, daß seine Mutter nichts von ihm wissen will und keinen Gedanken hat, den Jungen jemals zu sich zu holen.«
Frau Clasen nickte langsam. »Da mögen Sie recht haben. Aber um auf Ihre Frage zurückzukommen…« Sie nahm einen Aktenordner aus dem Regal und begann darin zu blättern. »… ja, hier steht es: Marion Seifert, Familienstand ledig, Vater unbekannt. Frau Seifert lebt übrigens jetzt in der Schweiz.«
»Mehr ist nicht über die Mutter bekannt?« fragte Julia ungläubig.
»Doch, schon. Aber diese Unterlagen liegen beim Jugendamt, auch die Adoptionspapiere. Wir haben hier nur ein paar Anhaltspunkte, wenn sich Ehepaare für ein Kind interessieren.«
»Dann bleibt uns ja nur zu hoffen, daß jemand auch Kevin haben will«, sagte Julia traurig. Wenn sie dem Kleinen doch bloß helfen könnte!
Der Gedanke an ihn ließ sie auch nicht los, als sie schon längst Feierabend hatte und zu Hause vor dem Fernseher saß. Sie selbst war behütet aufgewachsen, ihre Eltern hatten sie und den kleineren Bruder liebevoll aufgezogen. Wahrscheinlich war dies auch der Grund, daß Julia Erzieherin geworden war. Für Kinder dazusein, die es nicht so gut wie sie hatten, war eine wundervolle Aufgabe.
Bald hatte Kevin Geburtstag, er wurde fünf Jahre alt. Wie gern hätte Julia ihm neue Eltern geschenkt, ihm die Freude gemacht, daß es da jemanden gab, der ihn als Sohn haben wollte.
*
Am nächsten Tag mußte Kevin wieder miterleben, wie ein junges, sympathisch aussehendes Paar ins Waisenhaus kam, um endgültig die kleine Jennifer zu sich zu holen. Das dreijährige Mädchen war schon ein paarmal übers Wochenende dort gewesen. Nun waren alle Adoptionspapiere unterschrieben, und die Kleine krähte fröhlich: »Ich komme nie wieder her. Das sind nämlich meine Eltern, wißt ihr, und jetzt fahren wir nach Hause!«
Das Paar strahlte glücklich. Jennifer hatte sich schon gut eingelebt bei ihren Besuchen – und daß sie mit ›meinen Eltern‹ betitelt wurden, machte sie sehr stolz. Schon so lange hatten sie darauf gewartet, ein Kind zu sich nehmen zu können. Nun war der große Tag gekommen, und ihr sehnlichster Wunsch erfüllte sich.
Leider ließ es sich nicht immer vermeiden, daß die anderen Kinder, die traurig zurückbleiben mußten, zusehen konnten, wenn ein Glückspilz von einem strahlenden Ehepaar geholt wurde.
Kevin sah lange dem großen Wagen hinterher, bis er an der nächsten Straßenbiegung verschwand. Dann schloß sich das Tor wieder, und die anderen Kinder widmeten sich ihren unterbrochenen Spielen. Nur Kevin blieb einsam am Eingangstor stehen und warf sehnsüchtige Blicke in die Ferne.
Julia konnte dies von der Wäschekammer im Obergeschoß beobachten, und es zerriß ihr fast das Herz. Es schien ihr, als würde Kevin mehr als die anderen Kinder darunter leiden, daß er hier im Waisenhaus leben mußte – und dabei kannte er doch gar kein Zuhause!
Julia hatte von der Heimleiterin erfahren, daß Marion Seifert ihren Sohn in der Entbindungsklinik zurückgelassen hatte. Zunächst blieb Kevin auf der Säuglingsstation, als er ein paar Monate alt war, kam er ins Waisenhaus MARIENKÄFER.
Fast wütend riß Julia ein paar Handtücher aus dem ordentlichen Stapel frisch gewaschener Wäsche. Warum fanden andere Kinder neue Eltern – und ausgerechnet Kevin, der eine Familie am meisten zu vermissen schien, mußte im Heim bleiben – wenn er Pech hatte, bis er erwachsen war. Eine furchtbare Vorstellung, fand Julia und verließ mit einem Arm voller Handtücher niedergeschlagen die Wäschekammer.
Die Waschräume waren blitzsauber. Das Reinigungspersonal arbeitete gründlich und gewissenhaft, aber auch die Kinder sahen sich meistens vor beim Waschen und Zähneputzen.
Julia hängte an jedes Waschbecken ein frisches Handtuch, nahm die benutzten fort und rückte hier und dort ein Stück Seife oder eine auf der Ablage vergessene Haarspange zurecht.
»Na, so nachdenklich?«
Ohne,