Um die Prozedur abzukürzen, holte sie ihn ausnahmsweise ab, obwohl er das nicht mochte. Schließlich war er kein Wickelkind mehr, wie er betonte.
»Tut mir leid, aber ich muß mit dir sprechen, Daniel. Mein Chef hatte einen schweren Unfall im Urlaub, er fällt längere Zeit aus. Ich soll die Kanzlei so lange führen, aber dazu müßte ich ganztags arbeiten. Ginge das, wenn du die Nachmittage bei Oma verbringst?«
»Du mußt jetzt doch ganztags arbeiten?«
Sie sah ihn scharf an. War da schon wieder eine Spur des Mißtrauens, das sie überwunden glaubte? Nein, er sah sie ganz offen an.
»Nur solange Dr. Fellhaber im Krankenhaus ist. Dann wird er die Kanzlei ja wieder selbst führen.«
»Na gut.«
Christine atmete erleichtert auf. Sie hatte schon eine Ablehnung befürchtet. Andererseits wollte sie Dr. Fellhaber nicht enttäuschen und sich damit die Chance nehmen, bald Teilhaberin zu werden.
Irgendwann würde Daniel ja wohl seinen Platz im Kindergarten bekommen. Wahrscheinlich dann, wenn er alt genug wäre, um allein zu Hause bleiben zu können, dachte sie desillusioniert. Wie machten das eigentlich die Frauen, die gar nicht anders konnten, als ganztags zu arbeiten?
Nun stand ihr also der Bittgang zu ihrer Mutter bevor. Christine wollte es hinter sich haben und rief sofort dort an, nachdem sie Daniel sein Mittagessen serviert hatte.
»Ach, Christine…«
Das klang nicht gerade ermutigend. Die kühle Stimme rief in Christine einen richtigen Widerwillen hervor.
Sie erklärte, warum sie anrief.
»Du willst mir also Daniel bringen.«
»Ja, jeden Tag nach der Schule bis halb sechs. Dann hole ich ihn ab. Und nur, solange mein Chef krank ist. Er kann aber auch an zwei Tagen in der Woche bei den Müttern seiner Freunde sein.«
Christine wußte, daß ihre Mutter das nicht zulassen würde. Sie wollte Daniel bestimmt ganz für sich.
»Das wäre für das Kind viel zu unruhig. Nein, dann müßte ich ihn wohl ganz nehmen. Obwohl der Junge eigentlich seine Mutter braucht…«
Neue Töne. Christine wußte, daß sie im Prinzip machen könnte, was sie wollte. Ihre Mutter würde immer ein Haar in der Suppe finden.
»Ja, das denke ich auch. Aber im Moment ist es nun mal so.«
»Allerdings wirst du es mir überlassen müssen, wie ich mit ihm umgehe.«
Diese Kröte wollte Christine nicht so ohne weiteres schlucken.
»Wenn du dich daran hältst, was ich für wichtig halte. Und erzähl ihm nicht wieder so etwas wie neulich.«
»Stellst du jetzt Bedingungen? Dann muß ich mir das noch sehr überlegen.«
Auf die Knie, Christine!
»Daniel soll es doch gutgehen, oder? Ich denke, daß wollen wir beide, also müssen wir uns auch absprechen.«
»Na schön. Ab wann kommt er?«
»Ab morgen?«
»Ja, gut. Dann muß ich jetzt erst einmal einkaufen gehen… Und das Bett muß auch noch bezogen werden und…, na gut, obwohl es mir eigentlich noch gar nicht paßt…«
Meine Mutter, die Märtyrerin!
»Dann später?«
»Nein, nein, schon gut.«
Na also, es ging doch. Christine bedankte sich, was sie ehrlich meinte, und merkte, daß ihre Hände schweißnaß waren. Schade, daß sie zu ihrer Mutter einfach kein besseres Verhältnis aufbauen konnte. Es war schier unmöglich, weil sie Welten trennten.
Sie packte für Daniel einen Koffer mit Kleidung und Spielsachen, fuhr noch einmal los, um ein Blumengesteck für ihre Mutter zu kaufen und eine Packung Pralinen als Dankeschön. Der Rest des Nachmittages ging für die Hausarbeit drauf, denn wenn sie ab morgen ganztags arbeiten mußte, dann bliebe abends nicht mehr viel Zeit, denn da ginge Daniel vor.
Schon am nächsten Tag begannen die Probleme. Daniel erwachte mit Halsschmerzen. Da er kein Fieber hatte und unbedingt zur Schule gehen wollte, brachte Christine ihn hin.
Sie begleitete ihn in die Klasse. Herr Wolf schien erfreut, sie zu sehen.
»Ich arbeite ab heute für einige Zeit ganztags. Die Nummer der Kanzlei haben Sie in der Akte von Daniel. Hier ist die Nummer meiner Mutter, wo er nachmittags ist. Die drei Straßen geht er allein, das ist kein Problem. Aber heute hat er Halsschmerzen, ich wollte Ihnen nur Bescheid sagen. Falls es schlimmer wird, rufen Sie bitte meine Mutter oder mich an?«
Daniel stand mit finsterem Gesicht neben ihr. Offenbar fühlte er sich schon wieder als Baby behandelt, aber Christine konnte nicht anders handeln, denn sonst hätte sie keine Sekunde Ruhe in der Kanzlei. Sie kam sich vor wie eine Rabenmutter.
»Machen Sie sich keine Gedanken, das wird schon klappen. Setz dich hin, Daniel, ich muß noch kurz mit deiner Mutter sprechen.«
Er ging mit ihr hinaus. Christine war gespannt, was jetzt käme.
»Wenn Sie wollen, kann Daniel nachmittags auch mal bei mir sein, Frau Baerwald. Ich meine, weil Sie doch mit Ihrer Mutter ein paar Spannungen haben… Nur für den Fall der Fälle…«
Sie sah ihn an, als sei er der personifizierte Schutzengel.
»Das ist aber ein großzügiges Angebot von Ihnen…«
»Sie wissen ja, ich mag Daniel.«
»Ich bin ganz gerührt, Herr Wolf. Aber ich hoffe, ich muß nicht darauf zurückkommen. Sie haben doch selbst genug Arbeit…«
»Das ginge schon. Sie werden ja sehen, wie es klappt. Dann rufen Sie mich einfach an.«
»Danke, vielen Dank.«
Was für ein erstaunlicher Mann. Christine kam gar nicht darüber hinweg, wie großzügig er war. Sie konnte ihrer Mutter nun ganz anders gegenübertreten, als sie Daniels Sachen hinbrachte und Blumen und Pralinen überreichte.
»Danke, Christine. Das Geld hättest du sparen sollen. Es kann immer mal einen Notfall geben.«
Warum konnte sie sich nicht einfach freuen? Christine knirschte innerlich mit den Zähnen.
»Daniel hat Halsschmerzen, wollte aber trotzdem zur Schule. Gib ihm nachher noch dreimal von diesen Pastillen, ja? Um halb sechs hole ich ihn ab.«
»Soll er nicht lieber hier schlafen, wenn er krank ist?«
»Solange er kein Fieber hat, nicht. Ich muß los. Danke noch einmal.«
»In der Not muß man als Großmutter eben zur Verfügung stehen«, gab ihre Mutter mit Leidensmiene zurück und vergaß offenbar ganz, daß sie das die ganze Zeit gewollt hatte.
In der Kanzlei war heute der Teufel los. Es war, als hätten sich alle Mandanten gegen Christine verschworen.
Die Termine platzten, weil sie Unterlagen vergessen hatten oder sich verspäteten, andere Mandanten standen plötzlich da und wollten sofort etwas erledigt haben. Christine wußte schon am Nachmittag nicht mehr, wo ihr der Kopf stand. Dann rief ihre Mutter an.
»Daniel hat Fieber. Soll ich mit ihm zum Kinderarzt gehen?«
Natürlich, das fehlte noch. Christine schaute auf ihren Terminkalender. Sie konnte jetzt unmöglich weg.
»Ja, bitte, das wäre nett. Du weißt ja Bescheid.«
»Obwohl ich denke, unser Hausarzt…«
»Nein, bitte nicht.«
Sie bat ihre Mutter, sofort anzurufen, wenn sie zurück war. Mußte Daniel gerade jetzt krank werden? Warum ging nicht einfach einmal etwas glatt?
Um halb sechs hatte ihre Mutter immer noch nicht angerufen. Christine