Ursprünglich hatte er vorgehabt, mit dem Flugzeug zu verschwinden. Irgendwohin, wo ihn keiner kannte. Doch ein Flugticket kostete mehr als er noch an Barem hatte. Deshalb der Versuch, am Geldautomaten noch mehr abzuheben. Der Verlust der Scheckkarte war zwar bedauerlich, aber nicht zu ändern. Jedenfalls würden seine Verfolger nun annehmen, daß er mittellos dastand und nicht weit käme.
Aber Thomas hatte es geschafft, seine Spuren zu verwischen. Hier, in diesem Bergdorf, würde ihn wahrscheinlich niemand vermuten. Vorerst zumindest. Da sein Plan, ins Ausland zu fliegen gescheitert war, mußte er überlegen, wie es weitergehen sollte. Per Anhalter und mit dem Bus war er schließlich nach St. Johann gefahren. Hier, so hoffte er, würde er erst einmal ausruhen können und darüber nachdenken, was er tun sollte. Wenn alle Stricke rissen, konnte er immer noch über die Berge ins nahe Österreich verschwinden. Nach Tirol vielleicht, oder sich gar bis nach Italien durchschlagen.
Vielleicht aber auch, so war seine Überlegung, ergab sich irgendeine Möglichkeit, seinen Verfolgern ein Schnippchen zu schlagen und einen Weg zu finden, den wahren Verbrecher zu überführen.
Aber dazu brauchte er erst einmal Ruhe. Eine sichere Unterkunft, eine Arbeit vielleicht, und Zeit, sich einen neuen Plan zurecht zu legen.
In der Gaststube saßen nur wenige Gäste. Sie schauten zwar auf, als Thomas eintrat, widmeten sich aber gleich wieder ihren Gesprächen. Der junge Mann setzte sich an einen freien Tisch. Obwohl er seit einer Woche auf der Flucht war, sah man es ihm nicht an, daß er kaum geschlafen und sich die ganze Zeit über im Freien aufgehalten hatte. Seine Kleidung war zwar einfach, aber sauber und gepflegt. Gewaschen und rasiert hatte er sich am Morgen an einem Bachlauf, bevor er in die Kreisstadt wanderte und dort in den Bus stieg.
Thomas bestellte einen Kaffee. Da er seit gestern abend nichts mehr gegessen hatte, wählte er eine belegte Semmel dazu. Diese Ausgabe würde zwar seine Reisekasse strapazieren, aber mit leerem Magen ließ sich schlecht nachdenken.
Kaffee und Semmel wurden serviert. Der junge Mann langte nach der Zeitung, die neben seinem Tisch an einem Haken hing und schlug sie auf. Schon auf der zweiten Seite stand zu lesen, wonach er gesucht hatte.
›Wirtschaftsbetrüger auf der Flucht‹, lautete die Schlagzeile über dem Artikel.
Thomas legte die angebissene Semmel auf den Teller zurück und las. Neben den Fakten – die aus seiner Sicht nicht stimmten –, stand dort eine genaue Personenbeschreibung von ihm. Verstohlen schaute er über den Rand der Zeitung. Hatte er vielleicht schon die Aufmerksamkeit des einen oder anderen erregt?
Nein. Niemand kümmerte sich um den einsamen Gast an dem Tisch am Fenster, und Thomas zwang sich zur Ruhe. Während er langsam weiteraß, studierte er den Artikel noch einmal. Dann schlug er den Wirtschaftsteil auf. Der Aktienkurs der Firma hatte sich nach den ersten Turbulenzen wieder erholt, war beinahe auf den alten Höchststand zurückgeklettert. Der Skandal, der noch vor ein paar Wochen die Börse erschütterte, schien jetzt keine weiteren Auswirkungen zu haben.
Die Tür öffnete sich und ein neuer Gast erschien. Er kannte ein paar der Anwesenden wohl recht gut und setzte sich zu ihnen.
»Wißt ihr’s schon?« fragte er so laut, daß Thomas nicht umhin kam mitzuhören. »Der alte Pahlhuber-Tobias vom Brandtnerhof ist im Krankenhaus.«
»Nein«, riefen die anderen. »Was hat er denn?«
»Wohl der Blinddarm, wie ich gehört hab’.«
»Mei, da wird’s aber schwer für den Loisl einen Ersatz zu finden«, meinte einer. »G’rad jetzt, zur Erntezeit.«
Thomas vernahm, wie sie sich darüber unterhielten, daß es fast unmöglich sei, jetzt noch einen Knecht zu finden. Er hatte die Zeitung zurückgehängt und hörte jetzt richtig zu, was die Männer sagten, und während er dem Gespräch lauschte, reifte ein Plan in seinem Kopf.
Warum net? So schwer kann die Arbeit auf einem Bauernhof net sein, dachte er. Früher, als Student, hatte er in den Semesterferien immer gearbeitet, um sich etwas hinzu zu verdienen. Darunter war auch schwere, körperliche Arbeit gewesen. Warum also net eine Saison bei einem Bergbauern arbeiten und in Ruhe überlegen, wie er sich rehabilitieren konnte?
Jedenfalls wären erst einmal Unterkunft und Verpflegung gesichert.
Thomas winkte die Bedienung heran und bezahlte.
»Können S’ mir bitt’ schön erklären, wie ich von hier zum Brandtnerhof komm’?« bat er.
Die freundliche Haustochter nickte und beschrieb ihm den Weg. Thomas bedankte sich und nahm die Reisetasche auf. Als er die Wirtsstube verließ, strahlte draußen die Sonne und seine trüben Gedanken, die er am Morgen noch hatte, erhellten sich ebenfalls. Jetzt mußte es nur noch klappen, daß der Bauer ihn einstellte.
*
Maria Brandtner steuerte den Wagen auf den Parkplatz des Krankenhauses. Andrea, die neben ihr saß, hielt einen Strauß bunter Blumen in den Händen. Sie hatte sie selbst zu Hause im Garten gepflückt und darauf geachtet, daß Tobias’ Lieblingsblumen dabei waren. Der Garten hinter dem Bauernhaus war das gemeinsame Hobby von Andrea und Tobias. Stunden konnten sie darin zubringen und sich immer wieder an der blühenden Natur erfreuen.
In der großen Halle herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Patienten, die nicht im Bett liegen mußten, verabschiedeten ihren Besuch oder deckten sich an dem Kiosk mit Zeitungen und Romanen ein. Ärzte und Pflegepersonal eilten geschäftig hin und her, und in der Cafeteria, in die man durch eine große Fensterfront hineinsehen konnte, waren kaum noch freie Plätze.
Die beiden Frauen erkundigten sich nach der Station, auf der Tobias Pahlhuber untergebracht war. Schon am Vormittag hatte sich Dr. Wiesinger wie versprochen gemeldet und berichtet, daß die Operation gut verlaufen sei. Es war zum Glück kein Blinddarmdurchbruch gewesen, und der Knecht erhole sich inzwischen von dem Eingriff. Gegen einen Besuch gäbe es keine Einwände.
Mit dem Aufzug fuhren Mutter und Tochter in den dritten Stock. Dann ging es über einen langen Flur, bis sie vor einer Glastür standen.
»Intensivstation?« fragte Maria Brandtner irritiert. »Aber der Doktor hat doch gesagt, daß es dem Tobias schon wieder gutgehe. Wieso liegt er dann auf der Intensivstation?«
»Das ist immer so am ersten Tag nach einer Operation«, erklärte Andrea. »Das heißt ja nur, daß die Patienten hier besonders intensiv betreut und überwacht werden. Ich glaub’ net, daß wir Grund zur Sorge haben müssen.«
Sie drückte den Klingelknopf und eine junge Frau erschien.
»Grüß Gott, ich bin Schwester Monika«, sagte sie. »Zu wem möchten S’?«
»Pahlhuber«, antwortete die Bäuerin. »Tobias Pahlhuber.«
»Ach ja«, lächelte die Krankenschwester.
Sie deutete auf ein Regal, in dem grüne Kittel lagen.
»Die müssen S’, bitt’ schön, anzieh’n. Hier drinn’ ist alles steril.«
Dann zeigte sie auf die Blumen.
»Die dürfen S’ leider net mitnehmen. Blumen sind auf der Intensivstation verboten.«
Als sie Andreas enttäuschtes Gesicht sah, schaute sie ganz freundlich.
»Geben S’ mir den Strauß«, fuhr sie fort. »Der Herr Pahlhuber wird morgen auf die normale Station verlegt. Dann stell’ ich ihm die Blumen an sein Bett.«
»Dank’ schön«, bedankte sich Andrea erfreut und gab ihr die Blumen.
Die Besucherinnen zogen die Kittel über. Jetzt sahen sie beinahe aus, als gehörten sie zum Pflegepersonal. Die Krankenschwester führte sie durch eine Schleuse und deutete den Gang hinunter.
»Zimmer dreihundertelf, ganz unten rechts.«
Maria und Andrea bedankten sich und schritten den Gang hinunter. Die Tür