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Verwundert sah Christian auf das Auto, das auf der Straße vor dem Hof gehalten hatte. Da die Sonne schon recht tief stand, konnte er nicht erkennen, wer in dem Wagen saß. Erst nach einer Weile wurde die Tür geöffnet, und eine junge Frau stieg aus.
Eine junge Frau?
Der Bauer schaute zweimal hin. Nie zuvor hatte er eine solch atemberaubende Schönheit gesehen. Unwillkürlich hielt er den Atem an, als sie herübersah und ihre Blicke sich begegneten.
Ob sie sich verfahren hatte? Christian konnte sich nicht vorstellen, daß sie ihn besuchen wollte. Langsam ging er zur Straße.
»Grüß Gott«, sagte er und betrachtete sie aus der Nähe. »Kann ich Ihnen helfen? Haben S’ sich vielleicht verfahren?«
Katharina Hofer hatte beim Aussteigen die Sonnenbrille nach oben geschoben, so daß sie jetzt in ihren Haaren steckte. Ihre
dunklen Augen musterten ihn, ihre Miene verriet nicht, was sie dachte.
»Nein, nein«, erwiderte sie. »Ich wollt’ schon hierher.«
Der junge Bauer staunte. Was konnte die Fremde von ihm wollen?
»Ja, bitt’ schön, worum geht’s denn?«
Die Besucherin sah zum Bauernhaus hinüber.
»Ist der Herr Buchner zu Haus’? Herr Joseph Buchner.«
Christian schüttelte den Kopf.
»Mein Vater lebt net mehr«, antwortete er. »Aber was wollen S’ denn von ihm? Haben S’ ihn vielleicht gekannt?«
Zum ersten Mal zeigte sich eine Regung in dem schönen Gesicht.
»Ob ich ihn gekannt hab’? Nur zu gut«, erwiderte Katharina. »Und jetzt, wo ich Sie genau betrachte, erkenn’ ich Sie auch wieder. Sie sind Christian Buchner.«
»Ganz recht«, nickte er. »Aber ich versteh’ net...«
Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.
»Sie müssen die Tochter vom alten Hofer sein. Natürlich, Sie sind die Kathie!«
Erneut zuckte es in ihrem Gesicht. Zehn Jahre lang hatte sie niemand mehr mit ihrem Kosenamen angesprochen, und ausgerechnet er...!
»Ja, ich bin Katharina Hofer.«
Ein strahlendes Lächeln glitt über Christians Gesicht. Er breitete die Arme aus, als wolle er sie willkommen heißen.
»Aber kommen S’ doch nur herein«, lud er sie ein. »Wir alle haben uns damals gewundert, als Sie so plötzlich verschwunden sind. Vater und ich haben uns oft gefragt, was aus Ihnen geworden ist. Auch Pfarrer Trenker hat versucht, Nachforschungen anzustellen. Aber leider vergeblich. Und jetzt tauchen S’, so mir nichts, dir nichts, auf.«
»Pfarrer Trenker – gibt’s den also auch noch.«
»Freilich, und wie’s den gibt. Ich glaub’ beinah’, der wird nie alt. Er schaut immer noch so aus, wie vor zehn Jahren.«
»Als Sie und Ihr Vater herkamen.«
Der Bauer stutzte.
In den Worten der jungen Frau schwang Bitterkeit mit. Natürlich – er konnte sie sogar verstehen. Immerhin war es sein Vater gewesen, der den Hof ersteigert hat-
te.
»Wollen S’ net auf einen Kaffee hereinkommen?« bot er noch einmal an. »Bestimmt möchten S’ doch Ihr Elternhaus wiedersehen.«
Will ich das wirklich? Katharina war sich plötzlich nicht mehr so sicher, daß es eine gute Idee war, herzukommen.
Wie hatte Anna noch gesagt?
»Manchmal ist es besser, zu vergessen, als eine Reise in die Vergangenheit zu machen.«
Sollte sie am Ende recht haben?
»Nein, dank’ schön«, schüttelte die Maklerin den Kopf.
Sie deutete mit dem Kopf zur abgebrannten Scheune hinüber.
»Blitzschlag?«
»Ja, leider. In der letzten Woch’ hatten wir ein schweres Unwetter. Da hat’s die Scheune getroffen. Gottlob konnte das Haus vor den Flammen bewahrt werden.«
Katharina ließ ihren Blick schweifen. Alles, was sie sah, rief Erinnerungen hervor, beschwor Dinge herauf, an die sie längst nicht mehr gedacht hatte.
Der alte Apfelbaum, in dem sie, sehr zum Ärger der Mutter, immer herumgeklettert war. Der Hühnerhof, davor stand früher ein Stall für ihre Kaninchen. Und die Scheune mit dem Heuboden, ein ideales Versteck, wenn sie einmal alleine sein wollte.
Sie dachte an das Album mit den alten Fotos, das zu Hause in Frankfurt, in einer Schublade des Sekretärs, in ihrem Arbeitszimmer, lag. Neben Fotografien der Eltern, hatte sie dort auch welche eingeklebt, die den Hof mit all seinen Gebäuden zeigten. Lange, sehr lange hatte sie das Album nicht in die Hand genommen. Erst gestern, am Abend vor ihrer Abreise, holte sie es hervor und wollte die Bilder betrachten. Doch dann legte sie es ungeöffnet wieder zurück. Sie würde sich überraschen lassen, von dem, was sie in der alten Heimat erwartete.
Und es war wirklich eine Überraschung. Heruntergekommen konnte man den Zustand des Hofes nicht nennen. Aber sie sah auf den ersten Blick, daß es mit ihm nicht zum Besten stand. Abgesehen von der Scheune, benötigte das Haus dringend einen Anstrich. Auf dem Dach fehlten ein paar Schindeln, die wahrscheinlich das Unwetter, von dem der Bauer sprach, heruntergeweht hatte, und die Holzlatten des Zaunes hatten ihren Farbanstrich noch von ihrem Vater erhalten. Also vor über zehn Jahren.
»Ich wollt’s mir nur einmal ansehen«, sagte die junge Frau, bevor sie zu ihrem Wagen zurückging.
Christian bedauerte, daß sie schon wieder aufbrechen wollte. Warum nur war sie vor zehn Jahren so einfach verschwunden? Zu gerne hätte er darüber mit ihr geredet und erfahren, wo sie jetzt lebte, was aus ihr geworden war.
Und er empfand ihre Gegenwart als äußerst angenehm...
Doch Katharina Hofer saß schon wieder hinter dem Lenkrad. Christian lief ihr hinterher.
»Wenn S’ mögen, dann können S’ jederzeit wieder herkommen«, sagte er und sah sie beinahe bittend an.
Die Maklerin lächelte plötzlich.
»Vielen Dank«, erwiderte sie. »Vielleicht mach’ ich’s wirklich.«
»Ich würd’ mich jedenfalls freu’n«, rief er dem wendenden Wagen hinterher.
»Himmel, was machst’ für Sachen?«
Katharina hatte sich diese Frage laut gestellt. Sie war doch nicht hergekommen, um mit dem Sohn des Mannes, der ihrem Vater den Hof weggenommen hatte, freundliche Konversation zu machen. Im Gegenteil. Auf der Fahrt ins Wachnertal hatte sie an nichts anderes denken können, als an das, was sie die letzten Jahre immer wieder bewegte.
An die Frage, ob damals alles mit rechten Dingen zugegangen war?
Das wollte sie herausfinden, und sollte sie feststellen, daß es nicht so war, dann wollte sie die Schuldigen zur Rede stellen und sie für das, was sie ihr und ihrem Vater angetan hatten, zur Verantwortung ziehen.
Die Mittel dazu hatte sie. Ka-tharina war reich und unabhängig. Es kostete sie ein müdes Lächeln, falls es notwendig sein sollte, einen Scheck auszustellen, um an die nötigen Informationen zu kommen.
Doch das hatte noch Zeit. Zehn Jahre hatte sie gewartet, jetzt kam es auf ein paar Tage auch nicht mehr an. Zunächst wollte sie ins Hotel. Von Frankfurt aus hatte sie ein Zimmer im ›Löwen‹ reserviert. Gespannt nahm sie die Straße nach St. Johann. Sie war neugierig zu sehen, wie das Dorf sich verändert hatte, in all den Jahren.
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Sepp Reisinger, der Löwenwirt, begrüßte seinen Gast.