Der Brief war von der Anwaltskanzlei Harrison und Gardenier. Es wurde höflich darum gebeten, Bescheid zu geben, wann Miß Evers bereit sei, die Herren zu empfangen.
»Lieber Himmel, mir wird ganz anders!« stöhnte Antonia. »Wie soll ich mich bloß benehmen, Niklas?«
»Wie immer, mein Schatz. Hoffentlich sind die Herren alt und grau, und ich brauche nicht zu fürchten, daß du dich in einen verguckst.«
*
Die Herren Harrison und Gardinier waren nicht alt und grau, sondern sehr ansehnlich und sichtlich beeindruckt von der reizenden Antonia, die in ihrer Verlegenheit noch hübscher aussah. Niklas hatte darauf bestanden, daß sie die beiden Herren allein empfing. Er genoß indessen den Ausblick über die Stadt, den St. Lorenz Strom und die Stadtmauer vom Balkon aus. Er wollte nicht daran denken, was Antonia erben könnte, er hoffte nur, daß sich dadurch nichts zwischen ihnen ändern würde. Geld verlieh Macht, er wußte es selbst nur zu gut und wünschte, allein für Antonia sorgen zu können. Er hoffte vor allem, daß sie nicht eines Tages sagen würde, daß sie erst recht für ihn interessant geworden wäre, durch dieses Erbe.
Antonia dagegen begriff gar nicht alles, was ihr da vorgelesen wurde. Aufgehorcht hatte sie erst, als sie erfuhr, daß Antonio Aldamare viele Jahre hart gearbeitet hatte, bis er durch einen glücklichen Zufall in den Besitz einer Ölquelle gelangt war. Für sich selbst war er bescheiden geblieben, hatte sein Geld gut angelegt und hatte gearbeitet bis zu seinem Tod. Er war inzwischen zu einem hochgeachteten Mann geworden, der im stillen auch viel Gutes tat, ein Waisenhaus unterstützte und ein Heim für ledige Mütter gegründet hatte.
»Aber meine Mutter hatte er vergessen«, begehrte Antonia auf. »Und ich wußte nicht, daß ich einen Vater hatte. Mir wäre es lieber, er wäre nicht reich geworden und hätte mich besucht.«
»Er hat Ihre Mutter gesucht, viele Jahre, als er zu Geld gekommen war, aber da erfuhr er, daß sie gestorben war und eine Tochter hinterlassen hatte. Eine Tochter, von der er nichts wußte. Sie werden einen Brief Ihres Vaters lesen können, der nur für Sie bestimmt ist. Er sollte Ihnen zugeschickt werden, sobald Sie gefunden sind. Er dachte nicht, daß er vorher sterben würde. Er war doch erst fünfzig Jahre alt.«
»Dann war Mama zwei Jahre älter als er«, sagte Antonia leise. »Verstehen Sie bitte, daß ich das erst verarbeiten muß. Es ist alles so plötzlich gekommen. Ich weiß nicht einmal, wie mein Vater aussah.«
»Sie werden viele Fotos von ihm sehen können, wenngleich er sich ungern fotografieren ließ. Aber er war ein bekannter Mann, ein Selfmademan, und die werden hier sehr geschätzt.«
»Ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie mich so hinreichend informieren.«
»Das ist unsere Pflicht und eine große Ehre. Ihr Vater wäre sehr glücklich gewesen, eine so kluge und schöne Tochter zu haben, die würdig ist, sein Erbe anzutreten.«
Das klang Antonia ein bißchen zu geschwollen, aber sie dachte sich dann auch, daß diese beiden Anwälte sehr gut an der Abwicklung dieser Erbschaft verdienen würden.
»Sie werden jetzt alles in Ruhe überdenken«, sagte Dr. Harrison. »Falls Sie es wünschen, können Sie während Ihres Aufenthaltes auch im Hause Ihres Vaters wohnen.«
»Ich möchte lieber im Hotel bleiben, aber ich werde das Haus gern besuchen. Wie Sie wissen sollten, bin ich in Begleitung meines Verlobten gekommen. Mit ihm werde ich mich besprechen.« Es war ihr leicht und ganz selbstverständlich über die Lippen gekommen. »Ich würde Sie jetzt auch gern mit Niklas Morton bekannt machen«, fügte sie schnell hinzu.
Sie holte Niklas herein, der diese Situation souverän meisterte. Er brauchte sich vor den Anwälten nicht zu verstecken, die von seinem selbstbewußten Auftreten leicht irritiert waren.
*
»Du flößt ihnen mehr Respekt ein als ich«, meinte Antonia anzüglich, als sich die Herren verabschiedet hatten.
»Ach was, sie hätten es bestimmt lieber gehabt, wenn du noch zu haben wärest«, scherzte Niklas.
»Sie sind verheiratet, mein Lieber, das haben sie doch angedeutet, als sie von dem Empfang sprachen, der uns zu Ehren stattfinden soll.«
»Dir zu Ehren. Sehr erbaut waren sie nicht über meinen Auftritt.«
»Weil sie nicht mit dir konkurrieren können. Sie haben nicht damit gerechnet, daß ich einen gestandenen Mann präsentiere.«
»Danke für das Kompliment, aber gewirkt hast vor allem du. Wahrscheinlich haben sie deinem Vater nicht solche zauberhafte Tochter zugetraut.«
»Genug der gegenseitigen Komplimente«, lachte Antonia. »Jetzt habe ich Hunger.«
»Willst du nicht erst den Brief deines Vaters lesen?«
»Mein Magen knurrt, und da kann ich mich nicht mehr konzentrieren. Ich habe so lange nichts von seiner Existenz gewußt, da kann ich auch noch ein Stündchen warten, um das zu erfahren, was er mir möglicherweise mitteilen wollte.«
»Wenn es so ist, ich habe auch Hunger«, sagte Niklas, und sie gingen in das Hotelrestaurant, das durchgehend geöffnet war. Es war ein kleinerer rustikaler Raum für späte und eilige Gäste, aber was ihnen geboten wurde, war exzellent und kam frisch auf den Tisch. Sie waren mehr als satt und fühlten sich doch wohl dabei, als sie ihre Suite aufsuchten. Sicher trug auch der ausgezeichnete Wein dazu bei, daß jetzt die große Müdigkeit kam. Weil sie sich auch erstmal wieder küssen mußten, schliefen sie auf dem breiten Bett im Handumdrehen ein.
Als Antonia erwachte, wußte sie momentan gar nicht, wo sie war. Es war dunkel im Zimmer, und als sie nach einigem Herumtasten den Lichtschalter fand, stellte sie fest, daß Niklas noch in tiefstem Schlaf und angekleidet auf ihrem Bett lag. Sie mußte lachen, aber sie bemühte sich, leise zu sein, um ihn nicht zu wecken, nahm ihre Tasche und ging in den Wohnraum. Sie hatte Durst. Im Kühlschrank fand sie die verschiedensten Getränke, sie entschied sich für ein Bier. Das hatte sie schon lange nicht mehr getrunken. Aber es hatte einen ungewohnten Geschmack.
Nun wollte sie endlich den Brief ihres Vaters lesen, aber sie verspürte eine Beklemmung, als sie den Umschlag öffnete. Die Handschrift verriet, daß er nie viel geschrieben hatte. Er hatte sich bemüht, sehr deutlich zu schreiben. Das sah aus wie die Schrift eines Schülers, der Wert auf eine gute Note legte.
An meine Tochter, von deren Existenz ich erst spät erfahren habe. Der Gedanke schmerzt mich sehr, daß ich sie nie sehen durfte, wenn sie diesen Brief zu lesen bekommt. Ich hege noch immer die Hoffnung, daß ich sie kennenlernen werde, habe aber gleichzeitig Angst, daß sie keinen Wert auf eine Begegnung legt. Junge Menschen können trotzig und unversöhnlich sein, das weiß ich, weil ich selbst so war.
Natürlich wird sie sich fragen, warum ich mich nicht um sie gekümmert habe, warum ich ihre Mutter verließ. Die Wahrheit wird sie mir vielleicht nicht glauben, weil ich weiß, daß ihre Mutter nicht mehr lebt und mir nicht widersprechen kann. Aber ich schwöre bei Gott und der heiligen Mutter Maria, daß ich nicht allein schuld war an dieser Trennung. Sophia sagte, daß sie einen Mann haben wolle, der ihr etwas bieten kann. Außerdem entstammte sie einer Familie, in der ich ein Außenseiter geblieben wäre. Es gab da noch einen anderen Mann, Roman Derring hieß er. Ich war eifersüchtig auf ihn, weil Sophia mir vorhielt, wie gebildet er sei. Ich war sehr eifersüchtig, und als sie dann auch noch sagte, daß ich ein Versager sei, beschloß ich, nach Übersee zu gehen und dort mein Glück zu versuchen. Ich will Deine Mutter nicht in schlechtes Licht setzen, mein Kind, ich will nur sagen, daß ich gekränkt und gedemütigt war. Ich kam nach Kanada, aber es war schwer, Arbeit zu finden, da ich kein Geld mehr hatte, mir eine anständige Bleibe zu mieten. Ich nahm jede Dreckarbeit an und sparte, aber das Sparen war mühsam, denn ich mußte essen und mich einigermaßen anständig kleiden, wenn ich vorankommen wollte. In einer Mine bekam ich Arbeit, aber es dauerte Jahre, bis ich es zum Aufseher brachte. Ich habe Sophia ein paarmal geschrieben, aber