DIE LETZTEN JAHRE
Er ist der Bruder des Küsters oder dessen Cousin – er weiß es nicht mehr genau, aber das ist auch nicht wichtig, war es vielleicht nie. Seit vielen Jahren führt er Besuchergruppen durch den Dom, führt sie die schneckenhausenge Stiege hinauf ins Dachgestühl, wo man die grauen, aus Backstein gemauerten Iglus der Gewölbe sieht, führt sie die Rampe hinab in den Keller, wo sich ein älteres Heiligtum befindet (das zu zeigen ihm untersagt ist), führt sie durch den Kreuzgang mit den verblassenden Rötelzeichnungen, die in schwungvollem, fast kühnem Strich das Leben Jesu’ illustrieren. „Hier sieht man die Anbetung der Heiligen Drei Könige“, will er gerade sagen, obwohl er weiß, wie falsch die Bezeichnung ist (denn es sind ja eigentlich die Könige, die anbeten), da erinnert er sich. „Erinnern“ ist das falsche Wort, denn es ist vielmehr, als würde ihn die Vergangenheit einhüllen, überspülen wie die anrollende Flut den steinigen Strand. Als Kind, „erinnerte“ er sich, hatte ihn sein Vater, der Restaurator war, einmal, ein einziges Mal, hinab in den Keller des Doms mitgenommen und ihm eine Luke an der Wand gezeigt, eine winzige Luke in Bodenhöhe. „Schau mal durch die Luke!“, sagte sein Vater mit einem Ernst, der den Knaben geängstigt hatte. Und dennoch klappte er den hölzernen Deckel der Luke hoch und sah aus großer Höhe, als flöge er, hinunter auf das spitze Dach des Doms. Wind blies ihm ins Haar. Vögel, deren Namen er damals noch nicht kannte, flogen kreischend vorbei, und als er den Kopf in den Keller zurückzog, wo es nach Mörtel und Mäusedreck roch, hörte er seinen Vater sagen: „Das wirst du nie begreifen.“ Die Erinnerung nahm ihm den Atem und einige Empfindliche aus der Reisegruppe tauschten Blicke, doch er hob tapfer die Antenne des Zeigestocks und sagte: „Hier sehen Sie die Anbetung der Heiligen Drei Könige …“ Von nun an verging kein Tag, an dem er nicht an die Luke dachte. Manchmal kam es ihm vor, als wäre sein ganzes Leben zum Denken an die Luke im Keller des Doms geronnen, ja als wäre sein ganzes Dasein die Luke selbst. Und so vergingen seine letzten beiden Jahre.
WIR WAREN ZUM ABENDESSEN EINGELADEN
Nichts hat einen Anfang. Nichts hat ein Ende. Und doch muss ich diese Geschichte irgendwann beginnen lassen. Vergessen Sie bitte nie, dass der Anfang willkürlich gewählt ist. Das, was in Geschichten erzählt wird – auch das ist etwas, das Sie nicht vergessen sollten! –, muss nicht wahr sein, könnte aber wahr sein oder es könnte zwar erfunden sein, aber auf eine verborgene Wahrheit hinweisen, die nicht ausgesprochen werden kann oder darf. Wir waren zum Abendessen eingeladen. Doch wir kamen zu spät und einige Gäste waren bereits ausgezogen. Eigentlich waren sie angezogen, doch uns kam es vor, als wären sie ausgezogen. Wir waren nicht zum Abendessen eingeladen. Die Tischplatte war aus flaschengrün eingefärbtem Glas und über den bloßen Beinen und Füßen der Nackten standen Schalen und Gläser mit Rotwein. Und als du die Rispe Johannisbeeren aus einer der Schalen nahmst, sah ich durch dich hindurch, sah durch dich und die flaschengrüne Tischplatte und die ganzen Gäste hindurch und sah, als blickte ich durch ein sich öffnendes Fenster, den Lkw, der sich schlaftrunken zur Seite neigte und auf die Gegenfahrbahn schlug, um Funken sprühend über den nassen Asphalt auf uns zuzurutschen. Wir waren zum Abendessen eingeladen. Ich wünschte, wir hätten abgesagt. „Wir können leider nicht kommen“, hätten wir lügen sollen. „Wir haben einen wichtigen Termin, der nicht zu verschieben ist.“ Und noch während wir das sagen, wird alles durchsichtig und flaschengrün. Manchmal wäre es schön, wenn etwas einen Anfang hätte. Wenn etwas einen Anfang hätte, das kein Ende hat. Geschichten müssen nicht wahr sein, aber manchmal sind sie es und ihr Ende ist es auch. Letztlich ist jede Geschichte, die man erzählt, dieselbe Geschichte (ein alter Mann erinnert sich, als Kind im Keller eines Doms eine Luke gesehen zu haben), die Kunst ist es jedoch, jede Geschichte anders als die vorherige aussehen zu lassen. Wir waren zum Abendessen eingeladen. Es war ein langweiliger Abend. „Da gehen wir nie mehr hin!“, sagtest du auf der Rückfahrt im Auto, die Füße auf dem Sitz, die Knie umschlungen mit deinen dünnen, bloßen, blau geäderten Armen. Es hatte zu regnen begonnen. Und hier lasse ich die Geschichte enden.
WIESO ICH ÜBERLEBTE
Am Abend vor der Schlacht saßen wir unter einem Baldachin vor dem Zelt des Generals und lauschten mehr oder weniger andächtig seinen Ausführungen. „Manchmal“, sagte er und genoss den vollen Klang seiner Stimme (er war vor dem Krieg Bühnenschauspieler gewesen), „lebt man wie ein Fahrradfahrer, der mit vor der Brust verschränkten Armen einen Hügel in eine malerische Senke hinabfährt.“ Er hob das Glas, hielt inne, dachte nach, den Blick nach innen gekehrt. „Das Wetter ist schön, der Wind, der die Haare des Radfahrers zaust, ist mild, ein Bach windet sich durch das Tal, Weiden, Ulmen, eine kleine Brücke überspannt das Flüsschen …“ Er leerte das Glas, setzte es ab, die Eiswürfel klirrten. Sofort trat aus dem Halbdunkel die Ordonanz und schenkte nach. „Aber an anderen Tagen“, fuhr der